Bernhard Peter
Pagode der Superlative - Shwedagon in Jangon

Die Shwedagon-Pagode ist unvergleichlich. Sie ist einzigartig. Sie ist das Nationalheiligtum von Birma und einer der ganz großen kunsthistorischen Höhepunkte einer Birma-Reise.

Die Shwedagon ist vielschichtig im wahrsten Sinne des Wortes. Keine Pagode wird so groß „geboren“. Am Anfang war nur eine kleine Pagode, die Lage für Lage vergrößert wurde, immer wieder umbaut und erhöht. Zu Beginn ihrer Geschichte war die Shwedagon nur ca. 10 Meter hoch. Wie Schalen einer Zwiebel umschließen die einzelnen Lagen den Kern, jede Lage ein Abbild des ästhetischen Empfindens ihrer Zeit, vorhanden und doch unseren Augen verborgen. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs sie stetig - viele Mon- und später birmanische Könige trugen gemäß der Tradition das ihrige dazu bei. 1372 renovierte König Binnya U das Heiligtum. Ein halbes Jahrhundert später erweiterte König Binyagyan die Pagode auf eine Höhe von 90 m. Unter seiner Nachfolgerin, Königin Shinsawbu (regierte 1453-72), bekam der Bau sein heutiges Erscheinungsbild. Ihre jetzige Höhe von ca. 100 m erreichte die Shwedagon unter König Hsinbyushin aus Ava im Jahre 1774. Die 13000 Goldplatten, mit denen die Pagode verkleidet ist, werden derzeit auf ein Gewicht von ca. 60 t geschätzt. Königin Shinsawbu z. B. stiftete ihr Körpergewicht in Gold, um die Pagode zu verkleiden. Und mit dieser Tat steht sie nicht alleine, andere folgten ihrem Beispiel. Wir nehmen die Gestalt der letzten Schicht wahr, und wissen doch, es gibt darunter mehr Kulturschichten als jemals in Troja aufeinanderfolgten. Und die Pagode lebt – auch unsere Zeit wird ihre Spuren hinterlassen und das Gesamtkunstwerk Shwedagon weiter formen. Noch heute ist es für birmanische Pilger selbstverständlich, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Blattgold für die Verschönerung der Pagode zu stiften. Im 20. Jh. forderten Naturgewalten ihren Tribut: Ein Erdbeben 1919 und ein Feuer 1931 zerstörten viele Teile. Zuletzt bebte die Erde im Jahre 1970. Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer weitreichenden Renovierung: Die Aufgänge wurden neu gestaltet, und die rechteckige Plattform bekam einen neuen Bodenbelag.

Sie ist materieller Reichtum und zugleich die Loslösung von ihm. Es liegt soviel Gold auf den Steinen, daß jedes menschliche Ermessen nicht ausreicht, den Wert zu erfassen. 3154 Goldglocken warten auf einen Windhauch, um zu erklingen. 79569 Diamanten und Edelsteine schmücken den Schirm (Hti) der Pagode – aber in so großer Höhe, daß uns allein das Wissen darum bleibt, genauso wie das Wissen um die vielen Tonnen Gold – meßbar ist beides nicht. Ein fernes Funkeln in der Höhe, ein sanfter Schimmer der untergehenden Sonne auf der Oberfläche aus Gold – wichtig ist nicht, was hier angehäuft ist, sondern was es jedem einzelnen Spender wert war, diese einzigartige Pagode zu verschönern, die Unmeßbarkeit bzw. Unermeßlichkeit des Gesamtkunstwerkes.

Sie wirkt wie ein Magnet und zieht den Besucher in den Strudel der die zentrale Pagode Umschreitenden. Egal, aus welcher Himmelsrichtung man die Plattform betritt: Der lange gerade Weg nach oben wird nach den vielen säulenhallenüberdachten Stufen umgelenkt in eine Kreisbahn um das zentrale Heiligtum. Jede Achse endet unweigerlich an der wuchtigen und doch eleganten Pagode im Zentrum. Hier konkurriert das axiale System der Terrasse mit den vier Aufgängen mit den konzentrischen Zirkeln. Um die runde Pagode herum die unzähligen Linien ihres achteckigen Sockels, die drei Reihen kleiner Bauwerke, der Linie abgetreppter Quadrate folgend, die Altäre für die 8 Wochentage, die niedrige Brüstung zum Abstellen von Opfergaben. Alles umgibt die zentrale Pagode wieder in mehreren Ringen, den Übergang vom Allerheiligsten zum Plattenhof schrittweise unterteilend. Drumherum der riesige Plattenhof mit fast 60000 Quadratmetern Fläche, eine Fußgängerzone ohnegleichen, in der Hunderte, Tausende wandeln, Opfergaben in der einen Hand, ihre Plastiklatschen in einer Tüte in der anderen Hand, flanieren, die Atmosphäre genießen, die Heiligkeit des Ortes in sich aufsaugen, sehen und gesehen werden. Sie ist Ort der Meditation und Flaniermeile zugleich. Man findet alle Arten menschlichen Zeitvertreibs. Meditieren in abgelegenen Hallen, Gebete murmeln, Rosenkranz durch die Finger gleiten lassen, die neueste Mode aus China spazierentragen, mit einem Nickerchen in einem Pavillon die Mittagshitze überstehen, in einer Halle Picknick machen, schwere Bronzeglocken anschlagen, Bekannte treffen, sich von Wandermönchen segnen lassen, papierene Blüten und bunte Schirmchen an den Buddha seines Geburtstages stellen, vor den im Schatten der Tazaungs wartenden Photographen mit der Liebsten im Arm für’s Familienalbum posieren.

Jangons Innenstadt ist ein Chaos aus Verkehr, Armut, unvollendeten Betonblöcken und stückweise zusammenbrechenden Altbauten, ohne jeden Charme. Fußgängerzonen im Sinne westeuropäischer Städte sucht man vergeblich in der Hölle aus Lärm, Abgasen und Improvisation. Aber hier, in den von all dem abgeschirmten Höfen und Pavillons, da findet jenes Sehen und Gesehenwerden statt, hier ist Platz für Muße und ungezwungenes Begegnen abseits der Alltagshektik, und für ein bißchen Andacht natürlich auch.

Die Shwedagon ist nicht nur einfach eine Pagode, sie ist ein ganzes System, welches die Vielfalt der birmanischen Kultur widerspiegelt. Unzählige Gebäude umgeben die Freifläche um die zentrale Pagode. Tazaung heißen Gebetshallen, Zayat die Ruheräume. Reich geschmückte Schreine mit phantastischen Holzschnitzarbeiten legen Zeugnis ab von der Frömmigkeit vieler Stifter quer durch alle Jahrhunderte. Vielfältig wie die Stifter sind die Kunststile. Und genauso vielfältig sind die Menschen. Greise murmeln mit leerem Blick Gebete. Alte Männer mit tütenförmigen Kopfbedeckungen aus dunkelrotbraunem Material fegen mit Besen die Platten, nicht besonders effektiv, aber verdienstvoll. Jangons Schönheiten lassen sich daneben in ihrem neuesten Outfit blicken. Im Halbschatten lehnt ein junger Mönch und liest halblaut aus einem schon stark mitgenommenen Büchlein. Daneben döst ein älterer Mann, auf dem Boden auf eine Fußmatte gekauert. In einem Pavillon stillt eine junge Mutter ihr Kind neben einer der größten Glocken der Welt, daneben breiten Pilger von weither ihre Decken auf dem Boden aus, um es sich bequem zu machen. Ein pensionierter Lehrer geht mit Kalendertabellen auf Touristenjagd, um ihnen den für sie richtigen Buddha zu zeigen. Ein junger Mann lehnt mit dem Rücken an einer vergoldeten Säule und genießt den sanften Frieden im Antlitz des Buddhabildnisses in der Halle. Oder man sitzt einfach auf den Stufen der Pavillons und schaut zu.

Allen Menschen scheint vor allem eines gemeinsam zu sein: Das Gefühl, angekommen zu sein. Das Ende eines Weges gefunden zu haben und einen Ausgangspunkt für den nun folgenden Weg erreicht zu haben. Das Gefühl, in diesem Moment Einklang mit dem Absoluten suchen zu können, Frieden finden zu können und ihn mit hinaus nehmen zu können in die Welt da draußen voller neuer Fragen und Sorgen.

Die Shwedagon ist Legende und Geschichte zugleich. Vor über 2500 Jahren, als der historische Gautama Buddha noch lebte, gab es in Okkala, in der Gegend des heutigen Yangon, einen reichen Kaufmann. Er erfuhr von einer Hungersnot im benachbarten Bangladesh und schickte seine zwei Söhne mit einer Schiffsladung Reis zu Hilfe. Unterwegs trafen die jungen Männer einen Geist (Nat), der sie fragte, ob sie sich Reichtum wünschten. Die beiden verlangte es aber nicht nach materiellen, sondern nach himmlischen Schätzen. So führte der Nat sie zu Buddha. Der Erleuchtete gab den Männern acht seiner Haare, die sie in ihrer Heimat auf dem Singuttara-Hügel einmauern sollten, wo schon die Reliquien der drei vorherigen Buddhas verehrt wurden. Die Männer wurden auf dem Heimweg überfallen und verloren dabei zwei Haare. Zwei weitere wurden von einer Schlange gefressen. Schließlich übergaben die Brüder König Okkalapa das Kästchen mit den übriggebliebenen vier Haaren. Wie durch ein Wunder waren bei der Öffnung jedoch alle acht Haare wieder vorhanden. Der König ließ die Haare auf dem Singuttara-Hügel in einem Stupa einmauern. So entstand die Shwedagon-Pagode.

Die Plattform ist ca. 60000 Quadratmeter groß. Sie ist mit weißem Marmor gepflastert, durchzogen von schwarzen bzw. grauen Bändern. Um die Hauptpagode von ca. 100 m Höhe gruppieren sich in drei Zügen 60 kleine Baueinheiten, die mit ihren vergoldeten Spitzen einen himmelstrebenden Wald aus formvollendeter Architektur bilden. Die Hauptpagode steht auf einer achteckigen Basis mit 433 Metern Umfang. Jenseits der breiten gepflasterten Fläche stehen weit über hundert selbständige Baueinheiten, eine kunstvoller als die andere, dazu Bodhi-Bäume, Palmen, kleinere Pagoden, Wasserspender.

Die Shwedagon ist aber nicht nur bloße Architektur. Sie ist Architekturgeschichte, sie ist Landesgeschichte. Sie ist mit der Geschichte des Landes gewachsen, sie hat Könige und Reiche kommen und gehen sehen und trägt aus jeder Zeit eine Schicht. Hier kristallisiert sich das religiöse Empfinden und die kulturelle wie auch die politische Geschichte des Landes, Lage für Lage.

Auch für die birmanische Freiheitsbewegung ist die Shwedagon ein wichtiger Ort. 1920 war die Plattform Versammlungsort von Studenten, die Proteste gegen die britische Kolonialregierung und Unterdrückung formulierten. Auch die Tochter des Anführers der Vorkämpfer für die Freiheit des Landes von britischer Unterdrückung Bogyoke Aung San, die Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, hielt hier ihre erste öffentliche Rede.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2004 und 2005
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