Bernhard Peter
Der Lotustempel der Baha’i in Delhi
und die Bedeutung seiner Architektur

Im Südosten Delhis, in Chiragh, liegt der Baha’i-Tempel, wegen seiner charakteristischen Form auch Lotustempel oder „Lotus of Bahapur“ genannt. Das Gelände ist mit 10 ha weitläufig, so daß die vollendete Form gut zur Geltung kommt. Das Gebäude wurde 1986 fertiggestellt. Was einem das Gebäude wie aus einer anderen Welt erscheinen läßt, ist vor allem der Kontrast, das blendende Weiß nach all dem Dreck der indischen Großstadt, die Weitläufigkeit nach der erdrückenden Fülle indischer Siedlungen, die Ruhe nach dem komplexen und nie endenden Lärm Indiens, die gepflegte Parkanlage nach den staubigen Landschaften Nordindiens, die abstrakte Schönheit komplexer Geometrie nach all den indischen Schnörkeln und Figürchen. Und genau das befriedigt Ur-Sehnsüchte des Menschen, so daß sich jeder gerne dem paradiesischen Charakter dieses harmonischen Treffpunktes vieler Menschen vieler spiritueller Wege öffnet.

Architektur des Lotustempels
Der Tempel ist ein Rundbau von 75m Durchmesser und 34.3 m Höhe, der auf einer Terrasse errichtet ist, die rundherum von Wasserflächen umgeben ist. Der Tempel hat die Form einer sich öffnenden Lotusknospe und besteht aus drei jeweils neunmal im Kreis wiederholten Elementen. Zwei Kreise von einwärts gebogenen und zum Himmel weisenden Blütenblättern umhüllen und decken die Kuppel, ein dritter äußerer Kranz steht nach außen ab und bildet die jeweiligen Dächer über den neun Eingängen.

Der Rundbau folgt in all seinen Elementen einer 9er-Symmetrie: Eingänge, jeder Kreis von Blütenblättern, Kuppelrippenbögen, Teiche – jedes Element ist neunmal vorhanden. Mit dieser Neunersymmetrie folgt der Tempel den Konzepten der anderen wichtigen Baha’i-Tempel der Welt. Nicht daß die Vorgabe der 9er-Symmetrie zwingend wäre, aber der erste Entwurf hatte genau diese Idee zur Grundlage, und seitdem lehnt sich die architektonische Konzeption daran an.

Die neun Teiche, die den Tempel umgeben, spielen auch eine wichtige Rolle in der Kühlung des Gebäudes, sie sorgen für eine frische Brise in dem weit offenen Bauwerk.

Die Eingangs-“Blätter” überspannen jeweils 18,2 m und erreichen eine Höhe von 7,8 m. Die äußeren Blätter sind 15.4 m breit und erreichen 22.5 m Höhe. Die inneren Blätter dagegen, die aus zwei toroidalen Oberflächen bestehen, sind 14m breit und erreichen eine Höhe von 34,3m.

Die 27 riesigen, schalenförmigen Blütenblätter, 13,3-25,5 cm dick, sind im Kern aus Beton und dann mit blendend weißen Marmorplatten verkleidet. Jede einzelne Marmorplatte ist exakt so geschnitten, daß die Trennlinien ein geometrisches Muster erzeugen, das der Linienführung der Blütenblätter folgt. Insgesamt gibt es an dem gesamten Bau keine einzige gerade Linie – eine architektonische Meisterleistung.

Im Innern befinden sich in der weiten, überkuppelten Halle nur Bestuhlung und heilige Schriften, Schlichtheit dominiert. Vor allem aber ist die Stille greifbar, ein wohltuender Kontrast zum Alltagslärm des modernen Delhi. Fast nüchtern ist die Atmosphäre, aber die Gedanken des Menschen sollen auch nicht durch die Dekoration in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, denn dieser Tempel (Mashriqu'l-Adhkar) ist zum Gebet für Menschen jeglichen Glaubens offen.

Die Bedeutung der Zahl 9 in der Baha’i-Religion
Die Zahl 9 hat aus mehreren Gründen für die Baha’i eine besondere Bedeutung:

1. Grund: 9 identisch geformte Eingänge, die sich in alle Himmelsrichtungen öffnen und keiner Richtung den Vorzug geben, laden Mitglieder der 9 wichtigen Weltreligionen zum Willkommen ein. Die Zahl 9 symbolisiert damit die neun spirituellen Pfade des Baha'i-Glaubens. Gezählt werden nur die wichtigeren lebendigen Weltreligionen: Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Sabäische Religion, Judentum, Christentum, Islam, Babismus, Baha'i-Religion. Es gehört zum wesentlichen Konzept dieser Baha’i-Tempel, daß sie eine Atmosphäre schaffen, in der sich Angehörige aller Religionen wohlfühlen können. Baha’i-Architektur soll alle vereinen, die an eine Absolute Wahrheit glauben, unabhängig von der konkreten Religion, vom sozialen Hintergrund, von Rassen- und Länder-Zugehörigkeit. Man will eine Atmosphäre der Harmonie, Einkehr und Reflexion schaffen, die von jedem wahrgenommen werden kann. Baha’i-Architektur will Menschen vereinen. Die Andacht in diesem Tempel ist individuell und frei von öffentlichen oder gemeinsamen Ritualen, es gibt lediglich gemeinsame Lesungen aus den verschiedensten heiligen Büchern der Weltreligionen.

2. Grund: Die Zahl 9 hat bei den Baha'i einen besonderen Symbolwert, da die Quersumme der Zahlenwerte des Wortes „Bahâ’“ (persisch "Glanz, Herrlichkeit") die Zahl neun ergibt. Grundlage ist hier das alte arabische Abdschad-System (auch: Abjad), das den einzelnen Buchstaben des arabischen Alphabetes in seiner alten Reihenfolge Zahlenwerte zuordnet. Dieses Abschad-Prinzip hat zur Folge, daß jedes Wort eine wörtliche Bedeutung und einen numerischen Wert hat, welcher ebenfalls assoziativer Träger der Wortbedeutung ist. Das Wort „Bahâ’“ setzt sich zusammen aus den Buchstaben B + h + â + Stimmabsatz, in Zahlenwerten 2 + 5 + 1 + 1 = 9, denn das erste, kurze „a“ wird nur als diakritisches Zeichen geschrieben und hat einen Zahlenwert von Null.

3. Grund: Die 9 ist die Zahl der Perfektion, der Kulmination und der Vollständigkeit. Es ist die höchste einstellige Ziffer. Es ist die Ziffer, die alle anderen enthält, weil man die Zahl durch Addition jeweils zweier Ziffern erreichen kann, was keine Ziffer ausschließt. Jede einstellige Zahl, die mit 9 multipliziert wird, ergibt eine Summe, die als Quersumme wieder 9 hat. In diesem Sinne wurde die 9 schon im Judentum als Symbol der unveränderbaren Wahrheit gesehen.

Der Symbolismus der Vollendung, der Vollständigkeit drückt das Baha’i-Selbstverständnis aus, zwar 9 verschiedene spirituelle Pfade zu haben und jeden bisherigen Propheten einzuschließen, zugleich aber den Abschluß einer Reihe von göttlichen Offenbarungen zu bilden. Nach Baha’i-Selbstverständnis handelt es sich um die letzte, vollständigste und umfassendste Offenbarung, die alle anderen acht vorher dagewesenen umfaßt und einschließt.

In dem Sinne steht die 9 auch für spirituelle Vervollkommnung des gläubigen Baha’i.

4. Grund: Die Zahl 9 erinnert auch an die Baha’i-Geschichte: 9 Jahre nach der Verkündigung des Bab in Shiraz empfing der Prophet Baha’u’llah die Mitteilung seiner Sendung im Teheraner Gefängnis.

Warum die Lotusform?
6 wichtige Baha’i-Tempel gibt es auf der Welt, auf jedem Kontinent einer. Einerseits haben sie bestimmte architektonische Gemeinsamkeiten wie die neunfache radiale Symmetrie, andererseits greifen sie landestypische Architekturen oder Merkmale auf, so daß jeder Baha’i-Tempel seine eigene kulturelle Identität hat. Indien hat gleich drei große Religionen, die das Land und seine Kultur geprägt haben: Buddhismus, Hinduismus und Islam, mal die kleineren Religionen wie Sikhismus und Jainismus außen vor gelassen. Es galt, ein zu bauendes Symbol zu finden, das möglichst verbindend für diese Religionen ist. Ein Symbol, das das kulturelle Erbe Indiens repräsentiert und zugleich mit der Baha’i-Ideologie vereinbar ist. Die Wahl fiel auf den Lotus, weil er für die Menschen Indiens ein Symbol der Reinheit und des Friedens ist. Außerdem steht der Lotus in Indien ständig in Zusammenhang mit Göttern und dem Göttlichen, so daß er einen hohen gemeinsam getragenen Symbolwert besitzt. Der Lotus steht insbesondere auch für die Manifestation des Göttlichen. Speziell für den Baha’i-Glauben soll die Lotusblüte natürlich auch die Reinheit und Frische dieser neuen, jüngsten Offenbarungsreligion symbolisieren.

Andere Beispiele, wo die Zahl neun wichtig ist
Die Zahl 9 begegnet uns in der Baha’i-Religion auch in vielen anderen Bereichen:

Das höchste Gremium der Baha'i-Religion, die weder Geistliche noch Priester kennt, sondern nur gewählte und ernannte Verantwortliche, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit in Haifa. Es hat neun Mitglieder, die alle fünf Jahre von den nationalen Körperschaften gewählt werden. Auf lokaler Ebene gibt es neunköpfige lokale geistige Körperschaften (Geistige Räte).

Ein zwar nicht offizielles, aber von Baha’i oft verwendetes Symbol ist der einfache neunzackige Stern, wobei ein bestimmter Stil nicht zwingend ist, meist weist eine Spitze genau nach oben. Der Stern wird benutzt, um die Zahl 9 und damit „Baha’“ zu symbolisieren, aber er hat nicht den symbolischen Stellenwert wie das Kreuz im Christentum oder der Halbmond im Islam.

Der Architekt: Fariborz Sahba
Fariborz Sahba wurde 1948 im Iran geboren und ist heute kanadischer Staatsbürger. Seinen Master-Abschluß in Architektur erhielt er 1972 an der Universität von Teheran. Seitdem ist er an vielen prestigeträchtigen Projekten beteiligt, wie z. B: die iranische Botschaft in Peking/China, die School of Art in Sanadaj (Iran), die Neustadt von Mahsharah (Iran) oder das Pahlavi-Kulturzentrum in Sanadaj (Iran). Fariborz Sahba war Associate Architect für den Entwurf des Sitzes des Universalen Hauses der Gerechtigkeit in Haifa.

1975 wurde er Leiter des Entwurfsteams des größten Kulturzentrums im Iran, nämlich des Nagarestan Cultural Centre in Marble Palace.

1976 wurde er ausgewählt, um den Baha’i-Tempel von Neu-Delhi zu entwerfen. Insgesamt arbeitete er 10 Jahre an diesem Projekt. Mit der Hilfe eines Teams von 800 Ingenieuren, Technikern, Handwerkern und Arbeitern wurde eine der komplexesten Konstruktionen der Welt erschaffen. Die eigentliche Ausführung dauerte 6 Jahre und 8 Monate.

1987 bekam Fariborz Sahba die Aufgabe, insgesamt 18 monumentale Terrassen, 9 unterhalb und 9 oberhalb des Bab-Schreines in Haifa zu bauen, eine mittlerweile mehrfach preisgekrönte Arbeit, die nicht nur die Zahl neun, sondern auch die den Baha'i ebenfalls wichtige symbolische Zahl neunzehn in der Landschaftsarchitektur umsetzt. Weiterhin führte er die Projekte des Baha’i-Weltzentrums am Berg Carmel aus.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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