Bernhard Peter
Kyoto, Ryoan-ji, Teil (1): Beschreibung und äußere Bereiche


Lage und Erreichbarkeit, Touristisches
Der Ryoan-ji (Ryouan-ji) liegt im Nordwesten der Stadt im Bezirk Ukyou am Fuß der Hügel, linkerhand des Berges Kinugasa und an der Nordseite der Ritsumeikan-Universität (Anschrift: 13, Ryoanji Goryo-no-shita-cho, Ukyo-ku Kyoto-shi, Kyoto, 616-8001). Da er ein touristisches Hauptziel ist, liegt er nahe der Route des Raku-Busses Nr. 101, der die westliche Route nach Norden erschließt. Die Haltestelle liegt im Osten des Tempels an der Kinkakuji-michi. Die Keifuku Electric Railroad Kitano Line hat einen Bahnhof "Ryoanji" (B7), doch bis zum Tempel sind es noch 700 m Luftlinie in Richtung Nordnordwesten. Es ist dennoch der nächstgelegene Bahnhof des Schienenverkehrs. Wer vom Hauptbahnhof aus anreist, nimmt am besten die U-Bahn der Karasuma Line bis zur Haltestelle Imadegawa an der Nordwestecke des Kaiserpalastgeländes. Dann läuft man die nördlich des Geländes entlang verlaufende Straße 50 m nach Osten bis zur Bushaltestelle, um dort den Bus 59 zu bekommen nach Kinkakuji/Ryoanji/Yamakoshi Yuki. Man steigt an der Haltestelle Ryoanji-mae direkt vor dem Tempeleingang aus. Wer mit Keihan anreist, steigt in Sanjou aus und nimmt dort den besagten Bus 59. Man kann auch vom Hauptbahnhof ausgehend  (Kyoto eki mae) den Bus Nr. 50 bis Ritsumeikan Daigaku mae nehmen, er braucht eine knappe Stunde für die Strecke. Eine weitere Möglichkeit wäre es, mit der JR San-in-Line bis zum Bahnhof Enmachi zu fahren und dort den Bus Nr. 15 bis zur Haltestelle Ritsumeikan Daigaku mae zu nehmen. Alternativ kann man auch von da einen Bummel durch die dazwischen liegenden Viertel machen, der Restweg beträgt jedoch ca. 2,3 km. Mit Hankyuu kann man bis Omiya fahren und dort in den Bus Nr. 55 steigen, Aussteig bei Ritsumeikan Daigaku mae.

Eine ganz bequeme Möglichkeit ist folgende: Hier gibt es eine ganz besondere Buslinie, nämlich eine der ganz wenigen Buslinien in Kyoto, die von JR betrieben werden, momentan sogar die einzige. Das bedeutet, daß man hier mit einem JR Railpass kostenlos fährt, beim Aussteigen zeigt man dem Fahrer den Railpass vor, und das war es. Wer keinen Railpass besitzt, zahlt für eine Fahrt bis Ryoan-ji-mae die Kyoto-Flatrate von 230 Yen. Auch regionale JR-Pässe wie der Kansai Atrea Paß und der Kansai Wide area Paß sind gültig. Auch der bis September 2023 ausgegebene Kyoto-Tages-Paß war auf der Strecke gültig. Den Bus, der im Gegensatz zu den lindgrünen Stadtbussen ein blau-weißes Design hat, bekommt man z. B. an seinem Startpunkt, dem JR Hauptbahnhof von Kyoto, und zwar gleich am dem Bahnhofsgebäude am nächsten gelegenen Bussteig. Es gibt dort fünf parallele Fahrspuren, von Süden nach Norden JR-Bussteige 1-3, A 1-3, B 1-3, C 4-6 und C 1-3, und senkrecht dazu im Osten gibt es noch die D-Bussteige. Der Takao-Bus fährt an JR3 ab, also an der ersten, südlichsten Busspur ganz rechts, dem zentralen Bahnhofsausgang am nächsten. Es macht jedoch wenig Sinn, den Ryoan-ji alleine aufzusuchen, idealerweise läßt sich der Besuch mit dem des Ninna-ji, des Myoshin-ji-Komplexes etc. sinnvoll kombinieren. Wenn man den JR-Bus nutzt, kann man das auch mit einem Besuch im Dorf Takao kombinieren, denn das ist der gleiche Bus.

Der Tempel gehört zu den bekanntesten und berühmtesten in ganz Japan, und das vor allem wegen seines Steingartens. Er steht auf der Liste aller Pauschalreisen, jede geführte Tour macht hier Halt (wer den Busparkplatz rechterhand sieht, ahnt bereits Schlimmes), er ist ein unverzichtbares Muß, ohne den ein Kyoto-Paket anscheinend nicht vollständig ist. Es führt offensichtlich kein Weg an ihm vorbei. Der Besuch im Ryoan-ji scheint auch Pflichtprogramm für jede Schulklasse zu sein. Und das hat die sicher einst vorhandene Atmosphäre gründlich ruiniert: Hier herrscht Tourismus pur. In den Außenbereichen mag man noch denken: Alles halb so wild, ist ja nichts los - doch je mehr man sich dem berühmten Steingarten nähert, desto voller wird es, bis man auf der Veranda des Hojo (Houjou) wie gegen eine Wand rennt. Die Photos zeigen gewöhnlich einen extrem besinnlichen, auf Kies, Steinsetzungen und kleine Moosflächen reduzierten Karesansui-Garten, in dem die Leere mit Händen zu greifen ist - würde man die Kamera um 180° drehen, sähe man eine mit Menschen vollgestopften Holzveranda, auf der man kaum einen Platz zum Photographieren findet, wo man sich zur ersten Reihe durcharbeiten muß, um keine anderen Leute im Bild zu haben. Diese berühmten Steine befinden sich während der Öffnungszeiten im Dauer-Belagerungszustand. Jegliches meditative Genießen erstirbt im Getrampel der Massen, im Geschiebe um den besten Blickwinkel, im Geschnatter der Schulklassen, im Nachschieben all derer, die auch zum Zuge kommen möchten. Zen-Stimmung ist so gewiß nicht zu hinzubekommen.

Gott sei Dank besteht der Tempel nicht nur aus dieser einen Hojo-Veranda, in anderen Bereichen (von denen es aber eigentlich gar nicht so viele gibt) ist es nicht ganz so extrem. Aber nach dem Tempel-Besuch empfindet man ein überstarkes Ruhebedürfnis, das man am besten nur 500 m weiter südöstlich im Toji-in stillt, denn der ist wirklich schön und fast unbekannt bei Touristen. Es ist beim Ryoan-ji genau wie beim Kinkaku-ji und beim Kiyomizudera und beim Fushimi Inari-Schrein: Alle Kurztouristen picken sich genau diese heraus, alle tummeln sich da, alte Massen ziehen neue Massen an. Jeder Reiseführer hebt den Tempel hervor und stilisiert ihn zum Pflichtprogramm, er gehört mit 16 anderen Sehenswürdigkeiten zum Unesco-Weltkulturerbe Historisches Kyoto, er wird hoch gelobt als eines der größten Meisterwerke, das die japanische Gartenkunst je hervorgebracht hat, der Hype ist uferlos - keiner hat einfach mal den Mut, NICHT hinzugehen. Und die wenigsten Touristen haben auch die Phantasie, woanders hinzugehen. Und das wird zur selbstverstärkenden Enttäuschung. Hier kommt erschwerend hinzu, daß sich die vielen Menschen eben nicht auf einer langen Strecke verteilen, sondern alle auf diese eine Veranda wollen.

Für 600 Yen Eintritt darf man einmal die Eingangshalle durchqueren und einmal im Uhrzeigersinn um die Veranda des Hojo laufen, und das war es schon. Bei Lichte besehen, ist das ein stolzer Preis für wenige Meter Strecke, und mehr gibt es auch nicht zu sehen. Hier ist dennoch definitiv einer der Haupt-Touristen-Hotspots der Stadt. Der Steingarten dürfte der meistphotographierte des ganzen Landes sein. Kontemplation? Komplette Fehlanzeige, völlig unmöglich. Die "ganz Großen" sind eben auch die "total Überlaufenen" ohne Atmosphäre. Man weiß, was einen erwartet, man ahnt, daß es schlimm wird, man geht hin, und es wird schlimmer. Die Empfehlung, am frühen Morgen gleich nach der Öffnung oder am späten Nachmittag kurz vor der Schließung hinzugehen, ist nur ein schwacher Versuch, denn dieser Empfehlung folgen ein paar hundert andere Besucher auch. Nachher weiß man es besser, bereut es zutiefst und hakt es dennoch erleichtert auf der Liste ab. Ja, es ist ein Erledigt-haben, aber nicht ein Genossen-haben. Zur Flucht vor den Massen und zur Erholung bieten sich entweder der genannte Toji-in oder der ebenfalls nahe und schöne Ninna-ji an. Kyoto ohne Massen geht sehr gut - nur hier eben nicht.

Das Tickethäuschen steht recht vorne am Weg, eintrittspflichtig ist der Tempel erst ab dem Kuri. Wer lediglich im Seigen-in essen möchte und sich das Gedränge im Inneren des Tempels spart, teilt das kurz mit ("Seigen-in de shokuji shitai desu") und braucht keinen Eintritt für das Außengelände zu zahlen. Leckeres Essen, wunderschöner Gartenblick, einfach ein schöner Platz. Und vielleicht kommt man dort zum Schluß, daß es hier draußen viel schöner ist als drinnen.


Geschichte und Bedeutung
Der Name des Tempels bedeutet "Tempel des zur Ruhe gekommenen Drachens" (ryuu = Drache, an = ruhen, ji = Tempel). Daneben hat dieser Tempel auch noch den Berg-Namen (Sango) Daiun-zan (dai = groß, un = Wolke, san = Berg, wird im Kontext stimmhaft zu zan). Die Tradition des Bergnamens geht auf die Ursprünge der Glaubensrichtung in China zurück, wo die Zenklöster auf Bergen lagen und jedes Kloster daher mit dem Namen des Berges assoziiert war. Diese Praxis übernahm man, auch wenn die Tempel und Klöster am Fuß der Berge lagen, dann nahm man den Namen des dahinterliegenden oder in der Nähe liegenden Berges.

Es gab an dieser Stelle ganz früher schon einmal einen Tempel, das war der 983 gegründete Enyuu-ji, an dem das Gedenken an Kaiser Enyuu gepflegt wurde. Insgesamt sieben andere Kaiser sind in der Nähe begraben. Der Bereich, in dem sich heute der Tempel befindet, gehörte während der Heian-Zeit seit dem Verfall des ersten Tempels der Familie Fujiwara, und hier gab es eine von Fujiwara Saneyoshi erbaute Aristokraten-Villa. Die Umwandlung einer Villa in einen Tempel ist eine sehr häufig anzutreffende Geschichte, und sie gilt auch hier. Hosokawa Katsumoto (1430-1473), ein sehr hoher Staatsbeamter der Ashikaga-Zeit (er diente unter dem Shogun Ashikaga Yoshimasa und war eine Schlüsselfigur des Onin-Krieges), erwarb das Anwesen im Jahre 1450. Nach seinem Tod wurde die Villa 1473 auf seinen Wunsch in einen Zen-Tempel umgewandelt, und das ist die Geburtsstunde des Ryoan-ji. Diese Vorgeschichte erklärt das Vorhandensein des großen Sees, der früher adeligem Vergnügen mit Bootsfahrten, Gesellschaften im Garten etc. diente.

Als Gründungsabt wurde Giten Genshou gewonnen, der 5. Abt des nahen Tempels Myoshin-ji. Seitdem ist letzterer der Muttertempel des Ryoan-ji. Der erste Tempel wurde kurze Zeit später, im Jahre 1467, ein Opfer des Onin-Kriegs, der praktisch den ganzen Norden der Stadt in Schutt und Asche legte. Hosokawa Masamoto, der Sohn des Gründers, baute 1488 den Ryoan-ji wieder auf. Vater und Sohn liegen beide auf dem Tempelareal begraben. Die Hosokawa kümmerten sich im späten 16. und 17. Jh. um den Tempel und hielten ihre Schirmherrschaft aufrecht. Unter der Förderung durch diese Familie, insbesondere durch Hosokawa Yusai und Hosokawa Sansai, wurde der Tempel angesehen und kulturell einflußreich. Zu dieser Zeit war er ein ganzer Komplex mit einem Haupttempel und 23 Subtempeln außenherum. Das heißt, der Ryoan-ji hat in seinen besten Zeiten so ausgesehen wie der Daitoku-ji-Komplex heute noch. Der Steingarten entstand vermutlich erst im Verlauf des 17. Jh. Erst in der späten Edo-Zeit setzte der Niedergang ein. Ein verheerender Brand zerstörte 1797 fast alle Gebäude, nur die Halle eines Subtempels überlebte und wurde nun umgesetzt, um als neue Haupthalle des Ryoan-ji zu dienen. Der Wiederaufbau ist um 1800 zu datieren. Genaugenommen ist einzig und alleine der streng angelegte Steingarten das einzige authentische Überbleibsel dieser alten Anlage. Alles andere verschwand seitdem oder wurde neu gebaut. Und die 1797 ausgebauten, geretteten, wieder neu eingebauten und wieder zerstreuten Schiebetüren aus dem besagten Subtempel-Hojo (Houjou), auf deren Schicksal weiter unten eingegangen werden wird, gehören ebenfalls noch zu den Überbleibseln des alten Ryoan-ji. Bis ca. 1930 war der Tempel fast unbekannt, doch dann begann der Ansturm auf den vielgepriesenen Steingarten, und der Tempel wurde in die erste Reihe der Besuchermagneten befördert, sehr zu seinem Nachteil.

Es handelt sich um einen Tempel des Zen-Buddhismus, und zwar der Rinzai-Richtung. Innerhalb dieser Schulrichtung gehört er zur Myoshin-ji-Unterschule (Rinzai Myoshin-ji), die mit 3500 zugehörigen Tempeln die stärkste Unterschule des insgesamt ca. 6000 Tempel umfassenden Rinzai-Buddhismus bildet und so viele Tempel wie die anderen 13 Richtungen des Rinzai-Buddhismus zusammen hat. Der Tempel gewährt ein Goshuin mit dem besonders hervorgehobenen Hauptwort "Seki-tei", Felsen-Garten (das erste Kanji wird je nach Kontext "Ishi" oder "Seki" gelesen, das zweite Kanji "Tei" oder "Niwa"). Einer der drei roten Stempel trägt des Motiv des berühmten Wasserbeckens mit den vier Kanji "Ware tada shiru taru", die alle gemeinsam das Quadrat in der Mitte als Bestandteil nutzen, dazu unten mehr.

Goshuin des Ryoan-ji, Mittelspalte: Seki-tei = Steingarten, rechte Doppelspalte unten: Datum: So, 27.8.2023 = Reiwa 5 nen hachi-gatsu ni-juu-shichi-nichi. Der runde rote Stempel links oben zeigt das berühmte Wasserbecken mit der aus 4 Kanji bestehenden Zen-Weisheit, das man allein Herr seiner eigenen Zufriedenheit ist. Linke Spalte: Ryoan-ji.


Der Chisen-kaiyu-shiki-teien
Der Hauptzugang liegt im Südosten; ein unspektakulärer, leicht nach links gebogener und von Hecken gesäumter Weg führt am Tickethäuschen (Haikan uketsuke) vorbei zum Tempeltor (Sanmon). Zunächst durchläuft man ein weitläufiges Außenareal. Linkerhand des Weges liegt der See (Kyouyou-chi). Auch wenn der Karesansui-Garten heute das berühmteste Element des Tempels ist, hat dieser hier im Süden des Areals einen sehr großen und schönen Teich-Wandel-Garten (Chisen-kaiyu-shiki), der zu alten Zeiten sogar der berühmtere von beiden war. Er stammt letztlich aus der Zeit, als das hier noch eine Heian-zeitliche Aristokraten-Villa war, wo Bootsgesellschaften gesellige Ausflüge machten. Als Ende des 18. Jh. eine Beschreibung berühmter Örtlichkeiten in der Hauptstadt (Miyako Meisho Zue) erschien, wurde der Garten darin hochgelobt, ebenso wie der mit hier überwinternden Mandarinenten bevölkerte Teich, der zu Bootsfahrten einlud.

Früher wurde der von zahlreichen Rhododendren umgebene See Oshidori-See genannt (Oshidori = Mandarinente). Selbst der ganze Tempel war alternativ als Oshidori-dera bekannt, Mandarinenten-Tempel. Es lohnt sich, diesem Bereich Aufmerksamkeit zu schenken und nicht gleich zu den Hauptgebäuden durchzumarschieren, denn erstens ist die Anlage groß und schön, zweitens ist es hier erholsamer als innen, drittens ist diese vordere Gartenanlage rund 500 Jahre älter als der berühmte Steingarten und wurde früher ästhetisch sehr hoch geschätzt. Große Flächen des Sees sind mit Seerosen bedeckt, und Schildkröten, Reiher und Enten bevölkern die Wasserfläche und Uferzonen.

Ohne Landverbindung ist die Insel Fushitora-jima (Insel des liegenden Tigers). Auf einer Insel im See, zu der man von der Nordseite aus über einen kurzen Damm und eine kleine Brücke gelangt, befindet sich ein Benzaiten-Schrein mit zinnoberrotem Torii davor. Von der Insel, die entsprechend Benten-jima genannt wird, hat man einen guten Blick auf den Daishu-in, einen kleineren Subtempel am Ufer, vor dem sich eine Halbinsel befindet. Dort befindet sich das Grab von Yukimura Sanada und seiner Frau. Entlang des Uferweges bietet mehrere Wisterien-Klettergerüste (Fujidana) Schatten. Zwischen dem Daishu-in und dem Hauptweg liegt der Reikou-in.

Im Nordwesten des Sees liegt der Subtempel (Tatchuu) Seigen-in, in dem sich ein Tofu-Restaurant befindet, bekannt für sein Nanakusa-Yudoufu, in heißem Wasser oder Konbu gekochter Tofu (yu = heißes Wasser). Und Nana-kusa bedeutet "sieben Zutaten". Vom Gastraum aus hat man einen guten Blick über einen sehr gepflegten Garten. Im Garten des Seigen-in steht ein Shishi-o-doshi, ein kippfähiges Bambusrohr, das sich langsam aus einer darüber angebrachten Zuleitung mit Wasser füllt, sich bei Übergewicht um eine Achse dreht und entleert und danach mit einem scharfen "Klack" auf einem Stein wieder in die Ausgangsposition dreht. Wörtlich dient das Gerät zum Verscheuchen von Hirschen (cave: Shishi = Shika = Hirsch, und Shishi = Löwe, beide klingen gleich, werden aber mit unterschiedlichen Kanji geschrieben, der Löwe sogar mit zweien).


Durch den Kuri
Erst ca. 80 m nördlich des Seeufers befindet sich der Hauptkomplex des Ryoan-ji. Der Weg dorthin wird von einem Wasserbecken und einem steinernen Buddha gesäumt. Eine flache Steintreppe (Ishidan) mit breiten Stufen wird beiderseits von einem niedrigen Bambusschräggitterzaun vom Typ Ryouanji-gaki gesäumt und führt hinauf zum eigentlichen Eingang hinter dem zweiten Tor. Im Osten liegt der Kuri (Küchentrakt und persönlicher Wohnbereich der Mönche), im Westen die Abtsresidenz (Hojo, Houjou). An letztere ist im Südosten das Tor für die kaiserlichen Gesandten (Chokushi-mon) vorgebaut, mit einem geschwungenen Giebel (Karahafu) und einem von Mauern flankierten Vorplatz, zu dem drei Stufen hinaufführen. Man betritt als Besucher die Gebäude durch den Kuri. In der Halle sind mehrere Faltschirme mit Kalligraphien mit chinesischer Dichtkunst aus der Hand des konfuzianischen Gelehrten Teranishi Kenzan (1860-1945) aufgestellt. Eine einzelne Kalligraphietafel trägt zwei Kanji nebeneinander mit der Bedeutung "Un-kan". Das Zeichen "un" bedeutet Wolke und ist Teil des Sango "Dai-un-zan". Das Zeichen "kan" kennen wir z. B. von "Gen-kan" und bedeutet "Eingang". Diese Kalligraphie heißt also einfach "Eingang zum (Berg der großen) Wolke". An den Kuri angeschlossen ist im Norden eine Teestube (Chashitsu "Zouroku-an"). Zusammen mit weiteren Gebäuden wird ein kleiner Innenhofgarten umschlossen, das sind Tempelbüro (Jimusho), ein neuer Trakt (Shinkan) und ein Lagerbereich (Shuuzouko), alles nichtöffentliche Bereiche.


Der Hojo und seine Schiebetüren
Der Hojo (Houjou) ist relativ groß und mit mehreren Zwischenwänden mit bemalten Schiebetüren ausgestattet. Die Aufteilung folgt einem typischen Schema: In West-Ost-Richtung erfolgt eine Teilung, aber nicht mittig, sondern nach Norden versetzt, und in Nord-Süd-Richtung erfolgen zwei Teilungen. Das erzeugt fünf Räume in drei Größen und in der Mitte der Nordseite einen Sonderbereich. Besagte fünf Räume waren bzw. sind wieder mit bemalten Schiebetüren ausgestattet. Der größte Raum ist in der Mitte der Südseite, er diente als Shicchu, als Raum für religiöse Rituale, denn er öffnet sich nordwärts zum Butsu-no-ma, dem Platz für den buddhistischen Altar und seine Bildwerke, der die ganze Breite des nördlichen Mittelbereichs einnimmt. Die Südwestecke bildet der Danna-no-ma, der Raum für den Stifter oder die Stifterfamilie. Die Südostecke bildet der Rei-no-ma, der Raum, durch den Besucher eintreten. Dort erfolgt die Anbindung an den Korridor und den Verbindungsgang zum Kuri. Die Nordwestecke bildet der Ehatsu-no-ma, der Raum für Mönche und Schüler. Und die noch fehlende Nordostecke bildet der Shoin, das Arbeits- und Wohnzimmer des Abtes. Die beiden letztgenannten Räume haben jeweils eine nach hinten auf die Veranda vorspringende Nische, typisches Element des Shoin-Stils.

Früher bestanden die Trennwände aus Schiebetüren mit Malereien der Kano-Schule. Als in der frühen Meiji-Zeit in der Phase der Unterdrückung des Buddhismus mit dem Ziel seiner Abschaffung und einseitigen Förderung des Shintoismus (Haibutsu-kishaku) gezielt die Tempel ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt wurden, wurden diese Originale 1895 aus wirtschaftlicher Not in alle Welt verkauft. Einige der alten Fusuma-e befinden sich heute in Museen, darunter acht im Metropolitan Museum of Art und vier im Seattle Art Museum. Im Jahre 2010 konnten sechs Schiebetüren zurückerworben werden. Vier davon stellen Einsiedler und Kinder vor goldenem Hintergrund dar, und die beiden anderen haben eine Landschaft mit See zum Thema, im Vordergrund Go-Spieler und Koto-Spieler (Koto = japanische Harfe). Besagte Schiebetüren waren nach Jahrzehnten ungewissen Verbleibs in New York auf einer Kunstauktion aufgetaucht und konnten so wieder in den Tempel gelangen. Im Jahr 2011 wurden die gut erhaltenen Gemälde öffentlich gezeigt.

Im Jahre 2018 konnte die Rückkehr von wenigstens neun weiteren Schiebetüren aus den Händen eines in Shizuoka lebenden Sammlers gefeiert werden, nach über einem Jahrhundert des Fehlens. Leider sind es nur neun von einst viel mehr, und unglücklicherweise sind die 1,80 m hohen Gemälde aus dem 17. Jh. mit Darstellungen von japanischen Bananenpflanzen (Basho) vor goldenem Hintergrund von unkundiger Hand im "westlichen" Stil großflächig überarbeitet worden, also de facto ruiniert. Von der Kunst der Kano-Schule ist nicht mehr viel zu sehen nach der Überarbeitung, und dennoch ist es ein Stück originaler Ausstattung. 2019 wurden diese Schiebetüren im Hojo öffentlich gezeigt. Früher besaß der Hojo um de 90 bemalte Schiebtüren, 16 im Mittelraum der Südseite, je 12 in den Räumen an der SW- und der SO-Ecke etc. Diese Gruppe von neun Schiebetüren kam erst in einen anderen Tempel in Kyoto, dann kaufte sie Denemon Itou, ein Geschäftsmann und Kohle-Magnat aus Kyushu, dann wurden sie um 1945 an einen britischen Kunsthändler veräußert, und der letzte Vorbesitzer erwarb sie 2003, und 2018 kamen sie zurück in den Tempel. Man darf aber nicht zu viel erwarten, weil zwischenzeitlich alle neun Fusuma-e vollständig übermalt worden und wie von Kinderhand mit neuen Schattierungen versehen sind. Der letzte Besitzer aus Shizuoka ist für diese flächendeckende Retuschierung verantwortlich. Auch die Türgriffe wurden unfachmännisch ersetzt. Wer echte Kano-Schiebetüren kennt und die anderen sechs Fusuma-e gesehen hat, ist entsetzt. Diese Schiebetüren befanden sich früher im oberen ersten Raum (Shoin).

Höchste Qualität sind die Schiebetüren, die sich seit 1989 im Metropolitan Museum of Art befinden. Die vier der mit 1,98 m x 1,83 m ungewöhnlich groß dimensionierten, beidseitig bemalten Fusuma-e mit Gold-Hintergrund und säkularen Themen stammen aus der Momoyama-Zeit, und die Zuordnung zum Ryoan-ji war lange nicht bekannt. Die Zuordnung wurde möglich, weil es ein Inventarverzeichnis aus dem Jahre 1799 gibt, das Miyako Rinsen Meisho Zue, und nach ersten Hinweisen wie die Nennung des Tempels auf rückwärtigen Papierverstärkungen, wofür man eben alte, benutzte Papiere genommen hatte, auf denen u. a. "Ryoan-ji" zu lesen war, konnte man die detaillierten Beschreibungen mit dem Befund abgleichen, und es paßte exakt. Es wurde zwei Jahre nach dem großen Brand des Ryoan-ji angelegt und verzeichnete alles, was gerettet werden konnte, das waren außen dem Steingarten nur eben die Schiebetüren, die man schnell hatte ausbauen können. Entweder Hosokawa Yusai (1534-1610) oder sein Sohn, Hosokawa Sansai (1564-1645), spendierten diese Malereien ursprünglich im Jahre 1606 für den Subtempel Seigen-in; und der Maler war ein Sohn von Kano Eitoku, vermutlich Kano Takanobu.

Die Fusuma-e stehen damit an einem politischen und infolgedessen auch kunsthistorischen Wendepunkt, am Übergang von der Momoyama-Zeit zur Edo-Zeit. Es ist das erste Mal, daß so opulente Malereien mit Goldhintergrund, die bisher ihren Platz in der Herrschafts- und Palastarchitektur hatten, in einem Zen-Tempel zur Anwendung kamen. Sie wurden später mitsamt ihrer Halle an die Stelle des abgebrannten Hojo übertragen und bildeten die neue Innenraum-Kulisse vor dem berühmten Steingarten. Die Themen sind eher chinesisch geprägt, denn es werden konfuzianische und taoistische Sujets dargestellt, chinesische Unsterbliche (Sen-nin zukushi) für den Hauptraum und chinesische Weise für den Stifter-Raum, und wieder andere Motive für den Besucherraum, typischerweise Bambus und Tiger. Die vier Elemente im Metropolitan Museum of Art bildeten früher die Trennwand zwischen dem Südwestraum und dem Raum in der Mitte der Südseite. Aus der gleichen Serie und aus dem gleichen Raum des Ryoan-ji stammen vier weitere Fusuma-e, die sich in Beppu in der Suginoi-Sammlung befinden. Diese sind schmaler und bildeten die vier zentralen Elemente der Nordseite des Hauptraumes, also die vor dem Altarbereich. Die vier einseitig bemalten Fusuma-e im Seattle Art Museum stammen aus einer anderen Stelle des Südwest-Raumes des Ryoan-ji (Danna-no-ma) und sind zu zwei zweiteiligen Stellschirmen (Byobu) montiert. Sie waren ehemals an der Nordseite angebracht.

Die Forschungen zu den noch vorhandenen Fusuma-e haben ergeben, daß das Gebäude des Hojo und die darin einst eingebauten Schiebetüren früher zum Subtempel Seigen-in gehört hatten. Erst als 1797 der ganze Haupttempel abbrannte, nahm man den 1606 erbauten Hojo des Seigen-in, baute ihn ab und als Hojo des Ryoan-ji wieder auf. Man vereinigte also das, was nach dem Brand übriggeblieben war, und so kam diese Halle neben den Steingarten. Und auch wenn der Tempel selbst vernichtet wurde, ist diese Halle mit ihren sehr großen Dimensionen wertvolle alte Bausubstanz. Entsprechend ist das Gebäude als wichtiges Kulturgut klassifiziert. Abgesehen von diesen Sonderausstellungen sind die Räume heute mit zeitgenössischen Malereien von Drachen und Landschaften ausgestattet, die in den 1950er Jahren angefertigt wurden. Die mit Tatami-Matten ausgelegten Räume darf man nicht betreten, also drängelt sich alles auf der Veranda.

Die Photos in diesem und dem folgenden Kapitel spiegeln den Zustand im Spätsommer 2023 wieder. Zu dieser Zeit waren aus Anlaß des 550sten Jahrestages des Gründers Hosokawa Katsumoto insgesamt 16 Schiebetüren montiert, die Drachen in Wolken darstellen und Arbeiten von Hosokawa Morihiro sind. Vier Schiebetüren messen 182 cm x 67 cm, vier weitere messen 182 cm x 88 cm, und acht Schiebetüren messen 180 cm x 116 cm. Insgesamt umfaßt der Zyklus 40 Schiebetüren und stellt Szenen aus dem Leben eines Drachen von der Geburt über das Heranwachsen bis zum Alter dar. Insgesamt werden neun Drachen abgebildet. Bemerkenswer ist der 8 Schiebetüren umfassende Jade-Drachen (der 6. Drache), der mit der gepackten Perle der Weisheit und Wolken dargestellt wird und der irgendwie äußerste Zufriedenheit in seinen Zügen ausstrahlt. Der achte Drache ist alt mit weißem Bart und ausgefallenen Zähnen. Der Maler, Hosokawa Morihiro, wurde am 14.1.1938 in Tokyo als Sohn des Politikers Hosokawa Morisada geboren und entstammte einer alten Adelsfamilie, der Higo-Hosokawa, die mit dem Lehen Kumamoto zu den ganz großen Tozama-Daimyo der Edo-Zeit gehörten und die auf eine Verwandtschaft zum Kaiserhaus zurückblicken können. Er studierte Rechtswissenschaften an der Sophia-Universität in Chiyoda, Tokyo, arbeitete nach seinem Abschluß eine Zeitlang als Journalist für die Asahi-Zeitung, dann ging er in die Politik, war 1971-1983 und 1992-1993 Abgeordneter des Oberhauses des japanischen Parlaments, 1993-1998 im Unterhaus, wurde 1983-1991 Gouverneur der Präfektur Kumamoto und schließlich 1993-1194 Premierminister. Im Alter von 60 Jahren zog er sich 1998 aus der Politik zurück und widmete sich den traditionellen japanischen schönen Künsten, Kalligraphie, Tuschemalerei, Keramik, Teekultur. Er wohnte im "Futoan" in Yugawara in der Präfektur Kanagawa. 2001 machte er eine erste Privatausstellung, und seitdem werden seine Werke jedes Jahr in Japan an verschiedenen Orten ausgestellt. Ausstellungen seiner Werke fanden sogar in New York, San Franciso und Paris statt. 2014 kandidierte er noch einmal bei der Wahl zum Gouverneur der Präfektur Tokyo, unterlag aber dem ehemaligen Gesundheitsminister Yoichi Masuzoe.


Der berühmte Karesansui-Garten
Südlich des Hojo befindet sich der berühmte Karesansui-Garten, der bekannteste und berühmteste Vertreter dieses Gartentyps überhaupt, ringsum von reizvollen, ca. 1,80 m hohen Mauern eingefaßt, genauer gesagt von überdachten rötlichen Erdwällen (Abura-dobei) aus mit Sesamöl getränktem und darin gesottenem Tonlehm. Das Material verleiht der Oberfläche ein interessantes Farbspiel mit brauen und orangefarbenen Farbverläufen. Da der Garten am Hang liegt, muß am äußeren Rand des Gartens ein Höhenversatz von ca. 80 cm durch diese Lehmmauer kaschiert werden, weswegen die Mauern von außen ungleich höher wirken als von innen gesehen. Bis 1977 hatten die Lehmmauern ein Ziegeldach, dann wurde die originalgetreue Eindeckung aus Rindenschindeln wiederhergestellt. Diese Mauer ist das kunsthistorisch wertvollste Bauwerk des Tempels.

Der Garten selbst, wegen dem die Massen hierher kommen, ist als Stätte besonderer landschaftlicher Schönheit klassifiziert. Der erste Eindruck ist fast eine Enttäuschung, wie klein der Steingarten eigentlich ist, nur 25 m breit und 10 m tief, hat also nur 250 m2. Der Garten, vom Typ her ein ebener Garten (Hira-niwa) ist nicht ganz eben, er ist im Südosten am tiefsten und steigt nach Westen und zum Hojo hin leicht an, um eine Drainage zu ermöglichen. Die Mauern spielen ein bißchen mit der Perspektive, um so eine größere Tiefe optisch vorzutäuschen. Es gibt keine Bäume, keine Sträucher oder Blütenpflanzen, es gibt nur eine akribisch geharkte Kiesfläche, Moosflächen und die markanten Steinbrocken unterschiedlicher Form. Es ist ein Karesansui-Garten in der reinsten, radikalsten Form. In der täglich frisch geharkten Kiesfläche sind insgesamt 15 ganz unterschiedlich gestaltete Felsen in fünf Gruppen (Gun) von 5, 2, 3, 3 und 2 Steinen (Go-seki, San-seki, Ni-seki) so positioniert, daß man, egal von welchem Standpunkt aus, von der Veranda aus immer nur 14 sehen kann, weil einer immer von größeren Steinen verdeckt wird.

15 ist eine perfekte Zahl, aber niemand ist perfekt, deshalb lassen sich durch die Wahrnehmung immer nur 14 erfassen. Das komplette Bild kann nicht in einem Zug gesehen werden. So führt uns das Arrangement die Einschränkungen unserer Perspektive vor Augen, lädt dazu ein, andere Perspektiven zu suchen und versinnbildlicht uns, daß erst alle Perspektiven zusammen ein Bild des Ganzen vermitteln - eine wichtige Botschaft auch im allgemeinen, übertragenen Sinn. Man kann es auch buddhistischer formulieren: Nur wer erleuchtet ist, sieht den fünfzehnten Stein, und das Suchen nach der Position, wo man alle sehen kann, entspricht dem Bemühen um Erleuchtung.

Eine eher willkürliche Einteilung ist die in 7, 5 und 3 Steine, dabei liegt die 5er-Gruppe vom Betrachter links, die 3er-Gruppe ganz rechts, und die drei mittleren Gruppen werden als 7er-Gruppe gesehen. Das ist aber eine rein zielorientierte Sichtweise, und die glückverheißende Zahlenreihe 7-5-3 zu erhalten. Mit gleichem Recht könnte man die benachbarten Gruppen rechts zusammenfassen und erhielte dann 8-5-2. Wie immer ist die Sichtweise Interpretationssache. In der Regel wird der Kies der Fläche in West-Ost-Richtung quer zum Betrachter geharkt, mit den Endbereichen senkrecht dazu, und um die Steingruppen werden die Umrisse konzentrisch nachgezogen. Bei der 5er-Gruppe (Ichi-gun, Go-seki) kreuzen sich die Linien wie bei einer Doppel-Acht.

Dieser Stein-Garten (Seki-tei) wurde nach einer gängigen, aber unbelegten Theorie vom Mönch Tokuho Zenketsu um 1500 herum angelegt. Diskutiert werden auch andere mögliche Urheber, einer der Hosokawa (Vater = Gründer oder sein Sohn), der Gründungsabt Giten Genshou oder der Mönch Souami, dessen Geschmack großen Einfluß auf die japanische Gartengestaltung hatte, alles unbelegt und spekulativ, und auch die genaue Entstehungszeit ist mit großer Unschärfe versehen. Selbst die Zeitangabe "späte Muromachi-Zeit", mit der man lange zufrieden war, läßt sich nicht sicher halten. Letztendlich ist weder bekannt, wer der initiale Gestalter war, noch, welcher Gartenkünstler dem Garten sein heutiges Aussehen gegeben hat, denn letzterer wurde auch im Laufe der Zeit verändert. Vor 1680 gibt es jedoch keinerlei Erwähnungen oder Aufzeichnungen darüber, deshalb ist es wahrscheinlich, daß sein Alter bisher überschätzt wurde und er erst im Zeitraum 1619-1680 angelegt wurde. Ein Stein (der südlichste) hat zwei Namen auf der Rückseite eingraviert, Hirokojirou und Kotarou. Sie waren wohl professionelle Gartenarbeiter (Kawaramono), was aber weiterhin das Ausmaß der Beteiligung der Mönche an der Gestaltung offenläßt.

Ursprünglich hatte der Garten sogar nur 9 Steine, und irgendwann im Laufe der Edo-Zeit wurde das auf 15 Steine erhöht. Das muß jedenfalls vor 1799 geschehen sein, denn in diesem Jahr erschien ein Buch des Dichters und Gartenarchitekten Akisato Ritou, in dem der Steingarten beschrieben wird. Und der originale Garten hatte einen Korridor, der in Nord-Süd-Richtung durch den Garten lief und von dem aus man die Kiesflächen mit den Steinen betrachten konnte. Auf der Südseite gab es ein Tor. Das wurde alles bei einer Neugestaltung vor 1799 entfernt, und seit spätestens diesem Jahr ist der Garten weitgehend unverändert geblieben. Heute wird der größte Teil der östlichen Mauer von einem Tor eingenommen.

Die Steinsetzung läßt Raum für vielfältige Interpretationen. Die gängigen sind "Muttertiger und Tigerjungen überqueren eine Wasserfläche", "Inseln im Ozean", "Berge in einem Wolkenmeer", "Nachzeichnung des chinesischen Schriftzeichens für das Herz" oder "abstrakt". Je mehr solcher Theorien es gibt, desto unwahrscheinlicher werden alle. Dieses Hineinsehen irgendwelcher Bedeutungen ist auch nicht zielführend, sogar eher kontraproduktiv. Egal wie man es interpretiert, sind doch die prinzipiellen Merkmale des Arrangements offensichtlich: Der beispiellose Minimalismus und das Zen-typische Konzept des Wabi-sabi, die im Unscheinbaren verborgene Raffinesse, die im Herben verborgene Schönheit. Und genau das zielt auf den Verstand, beflügelt die Phantasie, so daß sich jeder am besten seine eigene Interpretation und seine eigene Vervollständigung des Gesehenen schafft, womit der Garten am besten seinen Zweck erfüllt: Er steht für das, was er im Betrachter hervorruft, und die wahre Kunst der Gestaltung ist es, den Betrachter unterschwellig zu fordern und genau diesen Prozeß in Gang zu setzen. Die Reduzierung auf wenige, einfache Elemente erst ermöglicht die vielfältigen Wege der Wahrnehmung. Die Kunst des Gartens ist es, das Minimale so zu arrangieren, daß es zum Kristallisationskeim konstruktiver Gedankenentwicklung wird und den Betrachter geradezu einlädt, sich auf diesen Weg einzulassen. In diesem Sinne wird der Garten zu einem Koan, einem Zen-Rätsel, das dazu einlädt, verborgene Bedeutungen zu entdecken: Der wahre Gehalt dieses Gartens ist das, was man NICHT sieht. Seine Aufgabe ist es, den Betrachter zum Denken anzuregen und einen Prozeß der Erkenntnis in Gang zu setzen. Welche das sein wird, hängt ganz vom jeweiligen Betrachter ab, das Wichtige ist, daß dieser sozusagen auf die Reise geschickt wird. Der Steingarten ist jedenfalls das letzte und einzige Überbleibsel des alten Ryoan-ji vor dem Brand 1797.


Der Teegarten und das berühmte Wasserbecken
Der Weg der Besichtigung führt im Uhrzeigersinn um den Hojo herum. Der Westgarten ist im wesentlichen ein Moosgarten. Das ebenso berühmte Steinbassin (Chisoku no Tsukubai) befindet sich nördlich des Verbindungsganges zwischen Kuri und Hojo hinter einem weiteren Moosgarten (Hojo-Ost-Garten), der an das Teehaus aus dem 17. Jh. angrenzt. Der Teegarten ist auch in diese Zeit zu datieren. Diese Becken werden dazu benutzt, um Hände und Mund zu reinigen, bevor man das Teehaus betritt. Das vor dem Chashitsu Zouroku-an befindliche originale Becken ist eine Stiftung von Tokugawa Mitsukuni (1628-1701), einem Mitglied des Mito-Zweiges der Tokugawa, eines der drei Nebenlinien dieser Familie. Er war nicht nur Daimyo von Mito, sondern auch ein sehr gebildeter Mann, der ein Geschichtswerk über Japan verfaßte und die philosophische Schule Mito-gaku gründete. Damit die Touristen es besser sehen können, ist eine Replik nahe dem Besichtigungsrundgang an der Nordseite des Hojo aufgebaut. Es ist nicht das Original.

Das Becken besitzt ein zentrales, viereckiges Wasserloch in einem kreisrunden Stein. Auf der Fläche um das Zentralloch sind vier Kanji-Schriftzeichen in erhabenem Relief angeordnet, und zwar auf eine Weise, daß die quadratische Einfassung des Wasserlochs zu jedem Kanji dazugehört, einmal rechts, einmal oben, einmal links und einmal unten. Oder anders ausgedrückt: Jedes dieser vier Kanji besteht aus zwei Bestandteilen, und eines davon ist das Radikal "kuchi" (Mund), das aber jeweils in einer anderen Position untergebracht ist. Deshalb steht das gemeinsame Radikal im Zentrum, und die vier anderen Bestandteile, die für sich alleine keinen Sinn transportieren, sind außenherum so angeordnet, daß erst unter Verwendung des gemeinsamen Radikals "kuchi" jeweils das ganze Kanji für die gewünschte Bedeutung entsteht. Auf den ersten Blick ähnelt der Aufbau einer typischen chinesischen Käsch-Münze. Auf den zweiten Blick steckt in den vier um das Innenquadrat jeweils ergänzten Zeichen eine tiefe philosophische Erkenntnis: Ware tada shiru taru bzw. als Satz: Ware tada taru o shiru = wörtlich: ich ("ware", heute eher "wa") nur ("tada") wissen ("shiru") genug ("taru") = sinngemäß: ich allein weiß, daß ich zufrieden bin, daß es genug ist, daß es ausreicht, was ich habe oder bin. Zufriedenheit und Glück sind eine Einstellung, nicht außen zu erjagen, sondern aus sich heraus, von innen heraus zu entwickeln. Man hat es selbst in der Hand, mit dem Vorhandenen glücklich und zufrieden zu sein. Denn Bedürfnisse und Wünsche sind prinzipiell ohne Limit, deshalb ist man glücklicher, wenn man mit der gegenwärtigen Situation zufrieden ist, und diese Einstellung hat man selbst in der Hand.

Dieses Becken wurde tausendfach kopiert und fehlt in keinem Sortiment heutiger Anbieter von Nippes für den Garten. Übrigens, wer sich ein Goshuin des Tempels geben läßt, findet genau dieses Motiv als roten Stempel auf dem Eintrag ins Buch. Hier im Garten ist der Stein grün von Moos und Algen; aus einem dünnen Bambusrohr wird frisches Wasser zugeführt. Hinter dem Becken befindet sich noch ein dunkler Teich unter den Ahornbäumen. Im Hojo-Garten wächst unweit des berühmten Beckens auch Japans älteste Wabisuke-Kamelie (Wabisuke Tsubaki), die Ende März bis Anfang April blüht; ihre Blüten sind rot mit weißen Flecken.


Weiteres
Im Westen des Hojo befinden sich weitere interessante Gebäude, allen voran eine zweistöckige Buddha-Halle (Butsuden) mit weit ausladendem, geschwungenen Dach, dahinter eine zweite, fast genau so große Halle (Shodo) mit Verbindungskorridor (Kairo). Im Südwesten der Buddha-Halle steht der Glockenturm (Shoro). Der Weg führt von der Buddhahalle geradewegs nach Süden auf ein bemoostes Tor zu; der Bereich ist nicht für Besucher freigegeben. Noch weiter westlich befindet sich ein Mausoleum zu Ehren der Familie Hosokawa (Hosokawa-byo bzw. Hosokawa-den). Auch das kann man nicht besichtigen. Von dort führt der Weg in einem großen Bogen zu einer Pagode im Stil einer birmanischen Stupa (Pagoda). Unweit davon steht eine Nirvana-Halle (Nehandou). Auch einen Noukotsu-dou (quadratisch mit Pyramidendach) gibt es auf dem Gelände. Durch einen Kirschgarten (Sakura-en) kommt man wieder zum großen See.

Ganz im Norden des Tempels befinden sich am Berghang noch ein paar Kaisermausoleen (Go-Sanjou (reg. 1068-1072), Go-Reizei (reg. 1045-1068), Bruder des Vorgenannten, und Go-Suzaku (reg. 1036-1045), Vater der beiden Vorgenannten, weiterhin die Kaiser Uda (reg. 887-897), Kazan (reg. 984-986), Ichijou (reg. 986-1011) und Horikawa (reg.1087-1107)) und das Grab einer kaiserlichen Prinzessin Teishi. Insgesamt liegen hier also die Gräber von acht Mitgliedern der kaiserlichen Familie. Früher wurde kein großes Aufsehen um diese Gräber gemacht, erst Kaiser Meiji ließ im späten 19. Jh. wie auch an anderen Stellen die Kaisergräber (Misasagi) repräsentativer gestalten.


Chisen-kaiyu-shiki-teien


Daiju-in


San-mon


Raikou-in


Weg zum Kuri


Kuri


West-Bereich: Pagode, Stupa, Nehando, Nokotsudo

 


Seigen-in, Tofu-Restaurant mit Garten und Shishi-odoshi


Literatur, Links und Quellen:
Position auf Google Maps:
https://www.google.de/maps/@35.0341988,135.7182511,18.46z - https://www.google.de/maps/@35.0340315,135.7179371,275m/data=!3m1!1e3
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Marc Treib, Ron Herman: A Guide to the Gardens of Kyoto, 204 S, Verlag: ORO ED, 2018, ISBN-10: 1940743672, ISBN-13: 978-1940743677, S. 93-95
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David Young, Michiko Young: Die Gärten Japans: Tradition & Moderne, 176 S., Verlag Eugen Ulmer, 1. Auflage 2006, ISBN-10: 3800151626, ISBN-13: 978-3800151622, S. 108-109
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Ryoan-ji auf Kyotofukoh:
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Shunji Morimoto: Panels back at Ryoanji after 123 years, but with Western touch, Artikel in The Asahi Shimbun vom 29.1.2019
https://www.asahi.com/ajw/articles/13053831
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Castile, Sondra, Takemitsu Oba, and Hiroshi Onishi: Immortals and Sages: Paintings from Ryoanji Temple, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, v. 51, no. 1 (Summer, 1993), New York 1993, Sommer 1993, hrsg. vom Mepropolitan Museum of Art -
https://www.metmuseum.org/art/metpublications/immortals_and_sages_paintings_from_ryoanji_temple_the_metropolitan_museum_of_art_bulletin_v_51_no_1_summer_1993 - https://resources.metmuseum.org/resources/metpublications/pdf/Immortals_and_Sages_Paintings_from_Ryoanji_Temple_The_Metropolitan_Museum_of_Art_Bulletin_v_51_no_1_Summer_1993.pdf
Iliana Redman: Schiebetürenmalereien kehren nach 123 Jahren zurück in den Ryoanji-Tempel in Kyoto, Artikel in: Sumikai vom 30.1.2019
https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/kultur/schiebetuerenmalereien-kehren-nach-123-jahren-zurueck-in-den-ryoanji-tempel-in-kyoto-239078/
Der Ryoan-ji auf Smarthistory, von Yoonjung Seo:
https://smarthistory.org/ryoanji-peaceful-dragon-temple/
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https://japanesegardens.jp/gardens/famous/ryoan-ji/
Ryoan-ji auf Japan Guide:
https://www.japan-guide.com/e/e3909.html
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Weltkulturerbe von Kyoto:
https://www2.city.kyoto.lg.jp/bunshi/bunkazai/isan-o-e.htm
auf traditional Kyoto:
https://traditionalkyoto.com/gardens/ryoan-ji/
Liste Weltkulturerbe historisches Kyoto:
https://en.wikipedia.org/wiki/Historic_Monuments_of_Ancient_Kyoto_(Kyoto,_Uji_and_Otsu_Cities)
Besucherfaltblatt des Tempels
Ryoan-ji auf Kyoto Travel:
https://kyoto.travel/en/shrine_temple/134.html


Ryoan-ji, Kyoto, Teil (2): Hojo und innere Bereiche

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