Anne Christine Hanser
Reportagen aus dem Jemen, Teil 23:
Die letzten Tage

Die letzten Tage
Ende Juli 2006, kurz nachdem meine Stelle im Jemen von der EC Delegation wegen des angeblich mangelnden Commitments des Gesundheitsministeriums gestrichen worden war, erhielt ich die freudige Nachricht, daß das Konsortium, welches mich als eine von 5 Langzeitexperten für ein Projekt in Syrien nominiert hatte, die Ausschreibung gewonnen hatte. Meine jemenitischen Freunde und Bekannten beglückwünschten mich zu der neuen Position. Wohlwollen und Anerkennung spiegelte sich in den Gesichtern wider: 'Syrien!' Es schien keiner weiteren Worte zu bedürfen, das Wort 'Syrien' sprach für sich. Als ich dem Phänomen auf den Grund zu gehen versuchte, erntete ich Verwunderung über meine Unwissenheit (ich war noch nie in Syrien gewesen...). Mühsam versuchten meine jemenitischen Kollegen in Worte zu fassen, was offenbar nicht in Worte zu fassen war. 'Syrien ist viel aufgeschlossener. - Du wirst sehen.' Ich beschloß also, mich überraschen zu lassen.

Die letzten Wochen im August verbrachte ich zum einen mit meinem Arabischstudium, zum anderen mit den logistischen Vorbereitungen meiner Ausreise. Das beinhaltete das Exit-Visum und den Abtransport meiner Habseligkeiten.

Exit – Visum: Um den Jemen zu betreten, aber auch um ihn zu verlassen, bedarf es eines Visums. Das Einreisevisum bekommt man/frau mittlerweile ohne große Mühe am Sana'aer Flughafen, d.h. wenn man als Tourist einreist. Ein Extraausreisevisum brauchen Touristen nicht zu beantragen. Wer aber im Jemen arbeitet und nicht über das erstaunliche Glück verfügt, ein Mehrfachein- und -ausreisevisum zu besitzen, muß sich vor jeder Ausreise aus dem Jemen (besser noch nach jeder Einreise) erneut um ein Aus- und Einreisevisum kümmern, das - wenn ich mich recht erinnere - jeweils für 3 Monate gültig ist. Da ich im Jemen arbeitete, hatte ich zusätzlich zu dem Aus- und Einreisevisum, jeweils ein einjähriges Residentvisum erhalten, das jeweils Anfang September auslief und erneuert wurde. Nach jeder Reise gab ich meinen Reisepaß beim Projektleiter ab, um dann früher, meistens aber später den Reisepaß samt neuem Aus- und Einreisevisum zu erhalten.

Ausreisevisa sind - das versteht sich von selbst - für die involvierten jemenitischen Beamten eine willkommene Gelegenheit, ihr mehr als bescheidenes Salär aufzubessern (das offizielle Durchschnittsgehalt eines im jemenitischen Öffentlichen Dienst Beschäftigten lag einem Bericht der UN zufolge so gar unter dem Existenzminimum). Das zur jemenitischen Seite.

Aus- und Einreisevisa waren Teil des 'Machtpokers' unseres Projektes. Über Wochen blieben die Pässe im zentralen Projektbüro, ehe sie an die jemenitische Stelle weitergeleitet wurden. Einmal brachte mir unser Teamleiter meinen Paß mit dem Visum erst an dem Abend, für den ich ursprünglich meine Urlaubsreise nach Deutschland geplant hatte. Ich hatte längst umgeplant und fuhr nach Aden (Süden Jemens. Für Reisen innerhalb Jemens bedarf es natürlich keines Ausreisevisums. Nicht einmal eines Reisepasses....) in Urlaub. Einem anderen im Januar 2006 mehr oder weniger freiwillig ausgeschiedenen Kollegen wurde ohne dessen Wissen das Residentvisum annulliert.

Als ich von meiner vorzeitigen Kündigung erfahren hatte, war mein zweiter Gedanke, sicherzustellen, daß mein bis Anfang September gültiges Residentvisum nicht vorzeitig annulliert würde. Schließlich wollte ich die Zeit bis zum Antritt meiner nächsten Stelle mit Arabischlernen - im Jemen - verbringen.

Mein Arabischinstitut versprach mir zu helfen, d.h. das Visum umschreiben und verlängern zu lassen, benötigte dazu allerdings ein (no objection) Schreiben des Ministeriums für den Öffentlichen Dienst. Auf das Schreiben wartete ich vergebens. Allerdings machte das Ministerium auch keine Anstrengungen, mir das Residentvisum zu entziehen, was mir wiederum zugute kam.

Meine Ausreise hatte ich für den 6 September geplant, einen Tag, bevor das Residentvisum auslaufen würde. Dazwischen lagen etliche Wochen. Dank beharrlichen Nachhakens erreichten meine Kolleginnen in Deutschland zumindest, daß ich Ende August ein Schreiben des jemenitischen Ministeriums für den Öffentlichen Dienst erhielt, in dem die für Immigration und Pässe zuständige jemenitische Stelle um die Ausstellung eines Ausreisevisums gebeten wurde. Ich hatte keine Ahnung bezüglich des weiteren Prozedere. Als eine der letzten GUTEN Taten meines früheren Fahrers Jassir gab mir dieser den (arabischen) Namen der Behörde und eine Lagebeschreibung.

Ich entschloß mich, am nächsten Morgen die Stelle aufzusuchen, nachdem ich zur Sicherheit eine Kopie des Schreibens des Ministeriums für den Öffentlichen Dienst und meines Passes gemacht hatte. Als ich dort ankam und den Fahrer bezahlen wollte, stellte ich fest, daß ich nicht allzu viel jemenitisches Geld dabei hatte. Zum Glück reichte es noch für das Taxi hin und das Taxi später zurück. - Ich ärgerte mich über mich selbst, keine Vorsorge getroffen zu haben. Dummerweise hatte ich keine Ahnung, wie viel mich das Ausreisevisum (das OFFIZIELL in meinem Fall gratis war, wie mir später ein Beamter freundlich mitteilte) kosten würde.

Ich hatte nicht viel Zeit für das wenig angenehme Gefühl, nicht allzu viel Bares in der Tasche zu haben. Kaum war ich aus dem Taxi gestiegen, stellte sich ein noch viel, viel unangenehmeres Gefühl bei mir ein, daß durch die riesigen Menschenmassen erzeugt wurde, die sich vor und hinten den Toren und Türen der Behörde ansammelten. Jemeniten, die ein Ausreisevisum beantragen wollten, Ausländer jeglicher Couleur, die ein Aufenthaltsvisum oder ein Aus- und Einreisevisum beantragen wollten. Und das so früh am Morgen!!

Ich biß auf die Zähne, und versuchte mein Glück mit meinem unschuldigen, nach Erbarmen haschenden Hundeblick. - Geduldiges Warten ist bei Gott (sorry: bei Allah) nicht meine Stärke. Als Kompensation habe ich dafür ein freundliches Lächeln in die Wiege gelegt bekommen, das mir in der einen oder anderen (augenscheinlich) ausweglosen Situation geholfen hatte. Mit meinen kindlichen Lächeln bewaffnet, trat ich die Flucht nach vorn an und wurde von einem ins andere Zimmer beordert, bis sich endlich die richtige Tür öffnete. Ein verständnisvoller Ressortleiter, der das Schreiben des Ministeriums aufmerksam studierte und mir durch sein Nicken und freundlichen Wort die erfolgreiche Erledigung meiner Angelegenheiten signalisierte. Als ich ihm das Schreiben vorlegte, stellte ich fest, daß es nur die Kopie war. Das Original hatte ich zuhause in meinem Kopierer liegen lassen. - Also, flugs noch einmal zurück nach Hause, wo mir Katja mir freundlicherweise mit jemenitischem Geld aushalf...

Beim nächsten Anlauf, eine dreiviertel Stunde später, betrat ich das Gebäude von 'Paß und Immigration' mit etwas mehr Zuversicht, wußte ich doch schon, an welches Büro ich mich hinzuwenden hatte.

Ich machte mich mit der Komplexität der innerbehördlichen Vorgänge vertraut und fand nicht weniger als 15 Schritte, die vonnöten sind, um einen solch kompliziertes Anliegen, wie es das Ausreisevisum darstellte, erfolgreich zum Abschluß zu bringen. Nach etwa 3 bis vier Stunden des geduldigen Wartens erhielt ich das Visum. Ein freundlicher Mitarbeiter der Behörde hatte sich meiner Angelegenheit angenommen und war mit meinen Papieren von Zimmer zu Zimmer gezogen, bis er mir am Ende meinen Paß stolz überreichte.

'Was darf ich Ihnen dafür geben?' fragte ich, da ich die inoffiziellen Tarife nicht kannte.

'Das überlasse ich Ihnen', antwortete er mir in jemenitischer Höflichkeit.

'Ich kenne die Preise nicht. Das ist das erste Mal, das ich mich selbst um das Ausreisevisum kümmere. Was bezahlt man denn üblicherweise.'

'Zwischen 2000 und 3000 Rial.'

Das erschien mir angemessen. Ich gab ihm 2500, und hatte damit noch genügend Rest für das Taxi.

Warten auf Godot (französisch, bedeutet 'Gepäck' in Neuarabisch-Deutsch).
Ein früherer Kollege, der Anfang Januar 06 nach Deutschland zurückgereist war, gab mir die Adresse einer internationalen Spedition. Ich ließ mir einen Kostenvoranschlag für den Transport meiner Siebensachen nach Deutschland erstellen und fragte alternativ dazu nach den Kosten eines etwaigen Transports nach Syrien. In der Tat betrug die Luftfracht nach Syrien nur einen Bruchteil der Luftfracht nach Deutschland. Auch die Zwischenlagerung in Sana’a sollte kein Problem sein. Der Haken aber, wie sich auf Nachfrage bei der syrischen Dependance der Firma herausstellte, waren die Kosten, die die syrische Seite als Zoll und Zustellungsgebühr erheben würde. 'Etwa 600 USD für 100 kg Luftfracht,' ließ mich der freundliche Herr von der Spedition wissen und gab mir die freundschaftlichen Rat, die Sachen besser als Reisegepäck nach Syrien mitzunehmen. Vielleicht ließ sich die Fluggesellschaft ja erweichen, einen niedrigen Tarif fürs Übergepäck zu berechnen, besonders wo ich doch für ein soziales Projekt arbeitete, meinte er.

Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluß, daß der Mann Recht hatte.

Zur gleichen Zeit packte Evelyn, meine Kollegin vom DED, die eine Etage über mir wohnte, die Koffer. Sie würde ein paar Tage später als ich den Jemen verlassen, ebenfalls nach 2 Jahren Arbeit im Gesundheitssektor. Wir tauschten die Kostenvoranschläge aus und stellten fest, daß 'Evelyns' Spedition (ITS) um einiges preisgünstiger war. ITS galt unter den DED Kolleginnen als zuverlässig, so daß ich mir also keine Sorgen zu machen brauchte. Ich stattete der Spedition einen Besuch ab, um die Details zu regeln. Sony, der indische Manager der jemenitischen ITS Dependance, würde drei Tage vor meiner Abreise einen Kleintransporter schicken, um meine Sachen abholen zu lassen. Ich war über diesen Service sehr erfreut und mehr noch, daß mein Hab und Gut bei einer renommierten internationalen Spedition wie dieser in guten Händen war. Zur Sicherheit rief ich einen Tag vor besagtem Tag noch einmal an, um den Termin festzumachen.

In der Zwischenzeit machte ich mich auf die Suche nach Umzugskisten. Die sind nämlich im Jemen schlichtweg nicht vorhanden. Baumärkte, die die begehrten Stücke meistbietend verkaufen könnten, gibt es im Jemen nicht, und die erste Spedition, die ich aufgesucht hatte, hatte mir klar gemacht, daß ich mich selbst um die Verpackung sorgen müsse.

Evelyn löste die Aufgabe, indem sie einige buntbemalte Metallkisten auf dem Suq (Altstadtmarkt) kaufte, was ohne Zweifel die stabilste, wenn auch nicht preiswerteste Verpackungsvariante war. Mir persönlich sagten die Malmotive nicht zu, vielleicht war ich auch nur zu knauserig. 'Pappkartons tun's auch und sind zudem umsonst, dachte ich zumindest. Aber mein erster Annäherungsversuch erwies sich als wenig erfolgreich. 100 Rial (1 Mark) wollte der Verkäufer eines kleinen Lebensmittelladens auf der anderen Seite der Saila (der gepflasterte Wasserabflußkanal, der im regenlosen Zustand als Stadtautobahn genutzt wird) pro Karton haben, benutzte Kartons versteht sich. Es war eine Frage des Prinzips für mich, für die benutzten Lebensmittelkartons NICHT zu bezahlen. Tatsächlich bekam ich die guten Stücke im Suq bei Bab Al Jemen, 10 Gehminuten weiter, freundlich nachgeworfen (bildlich gesprochen natürlich). Außerdem waren die deutlich geräumiger als die im ersten Laden. - Katja, die gerade zu Besuch war, besorgte die Klebefilmrollen.

In zähem Ringen musterte ich einen Teil meiner Habseligkeiten aus. Das heißt, sie wanderten erst einmal in einen Übergangssack, bis ich endgültig über ihr Schicksal entscheiden wollte. Den Rest packte ich in die Kisten, die immer mehr und schwerer wurden. Als alles nichts mehr half, griff ich zum Messer, schnitt die zuvor aufwendig verklebten Kisten wieder auf und begann eine zweite Ausmusterungsrunde. Ein Teil der Sachen würde ich in der Wohnung in Sana’a lassen, denn mein Plan war, zügig nach Sana’a zurückzukehren und vor dem Projektbeginn in Damaskus mein Arabisch aufzubessern.

Wohnungsmäßig war alles bestens eingetütet: Evelyn, die in den 2,5 Stockwerken über mir wohnte, würde im September ausziehen. Jesper, der mir in seiner (mehrmonatigen) periodischen Abwesenheit Asyl in der Wohnung im ersten Stock gewährt hatte, würde bei seiner Rückkehr Ende Oktober in die oberen Etagen ziehen, und ich könnte bis auf weiteres Jespers Wohnung nutzen. Bei einer monatlichen Miete von 70 Dollar ein erschwinglicher Zweitwohnsitz, um dann und wann von Damaskus aus alte Freunde zu besuchen. So konnte ich getrost einen Teil meiner Habseligkeiten in Sana’a lassen...

Als ich dann das Nötigste in die Kartons für den Transport nach Deutschland zusammengestellt hatte, waren es 11 an der Zahl. Ich hatte den Kostenvoranschlag für 80 bis 120 kg Frachtgepäck berechnen lassen, und war dann doch überrascht, daß das 160 kg sein sollten. Sony hielt mir die Liste mit den Gewichtsangaben für die einzelnen Gepäckstücke hin. Ich überlegte einen kurzen Augenblick lang, ob ich aufs Nachwiegen bestehen sollte. 'Ach was soll's... Sony berechnete den Betrag in Dollar. Da der Wechselkurs, den er mir vorschlug, nicht meinen Vorstellungen bzw. den augenblicklichen Marktbedingungen entsprach, verabschiedete ich mich kurz für eine Fahrt zur nächsten Wechselstube. Bei meiner Rückkehr wurde ich von einem reichlich verlegen dreinschauenden Sony begrüßt, der etwas von einem Rechenfehler murmelte.

"Ahnte ich doch", sagte ich zu mir selbst, "daß die Kisten viel weniger Gewicht hatten." Doch was Sony mir sagen wollte, war nicht, daß die Kisten WENIGER, sondern daß sie 19 Kilo MEHR wogen. Ich blickte Sony, der irgend etwas murmelte von Rechenfehler seiner Mitarbeiter, wortlos an und zahlte die geforderten 440 Dollar. Was ein Glück, daß ich mehr Dollar eingetauscht hatte als den ursprünglichen Betrag.

Als ich zum Schluß die Frachtpapiere sowie Adresse und Termin zum Abholen am Frankfurter Flughafen haben wollte, erfuhr ich, daß ich keine Papiere benötige, ich würde von der Frachtabteilung des Frankfurter Flughafens verständigt werden. Ich nickte etwas verwundert. Die Fracht würde Anfang nächster Woche verschickt werden. - "Wieso nicht mit übermorgen, ich hatte doch gebeten, den Transport zeitgleich mit meiner Rückkehr einzurichten?" fragte ich verständnislos.

"Aber die Yemenia Airways verlangt, daß das Gepäck 2 Tage in der Unterdruckkammer verweilt, bevor es transportiert werden kann."

Ich sparte mir den Kommentar, daß Sony die Sicherheitsstandards von Yemenia Airways sicherlich bei unserem Gespräch letzte Woche schon kannte. "Was soll's", dachte ich, "wenn das Gepäck Anfang nächster Woche kommt, ist es immer noch rechtzeitig, bevor ich meinen Kurzzeiteinsatz im Kosovo Ende nächster Woche antrete."

Das Gepäck kam natürlich nicht in der folgenden Woche, nicht am Anfang und nicht am Ende. Nicht am Ende des Monats, nicht am Anfang des folgenden. Das Gepäck kam NIE an.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, wie viele E-mails, Telefonate und Nerven ich in Sony investierte und nicht zuletzt, wie viel Geld ich für den Kauf neuer (Business)Klamotten ausgab. - Jede Woche, wenn ICH anrief – Sony hielt es nicht für nötig, mich zu kontaktieren, erfuhr ich entweder von ihm, meistens aber von einem seiner Gehilfen, daß die Fracht gerade fertiggemacht worden sei und mit dem nächsten Flieger in Richtung Deutschland geschickt würde. Eine Adresse, an die ich mich in Frankfurt wenden sollte oder eine Kopie des Frachtbriefes gab es allerdings nie, obwohl beides sogleich per E-Mail auf den Weg geschickt werden sollte.

Ich hatte in meinem bisherigen Leben nicht viel mit Speditionen zu tun gehabt, aber im Laufe der Wochen und beiden Monate des Wartens schlich sich bei mir das Gefühl ein, daß ich an die schlampigste Niederlassung der Firma ITS geraten war. Mein Verstand sagte mir, daß ich für die fortwährenden Pannen unmöglich den gesamten Konzern verantwortlich machen konnte, denn der wäre sicherlich längst bankrott gegangen.

Evelyn teilte mir übrigens später mit, daß sie ihr Gepäck direkt mit Yemenia Cargo (der staatlichen jemenitischen Flugfrachtgesellschaft) verschickt habe. Das sei preiswerter gewesen als ITS. Offensichtlich auch zuverlässiger, denn ihr Gepäck kam vollständig und rechtzeitig an.

Die Rückkehr
Eigentlich hatte ich zeitig in den Jemen zurückkehren oder vorfristig nach Syrien gehen wollen, um mein Arabischstudium fortzusetzen. Dank der allerdings von Mal zu Mal an Glaubhaftigkeit einbüssenden Ankündigungen, das Gepäck werde mit der nächsten Yemenia-Maschine ankommen, waren alle meine guten Vorsätze fürs Arabischlernen über den Haufen geworfen.

Als sich nicht einmal telefonisch ein Hörer auf der anderen Seite des Drahtes bewegte, befielen mich düsterste Gedanken... Konnte es sein, daß der gesamte ITS Konzern, zumindest aber seine jemenitische Niederlassung bankrott gegangen war. Oder hatte Sony meine teuren Businessklamotten auf dem Sana'a Altstadtmarkt verhökert. - Aber wer würde dort westliche Damenbusinessklamotten kaufen wollen? War es etwa mein Universalkopierfaxscandrucker gewesen, der die Aufmerksamkeit erregt hatte oder war es mein Keyboard (E-Orgel), das ich Sony nichtsahnend anvertraut hatte?

Böse Gedanken, die so ganz und gar nicht meiner Frohnatur entsprechen.

Ende Oktober setzte sich endlich bei mir die Einsicht durch, daß sich keine Kiste nach Deutschland bewegen würde, weder mit der nächsten Yemenia-Maschine noch mit einem imaginären fliegenden Teppich. Ich buchte einen Flug mit Yemenia Airlines, wehmütig darüber nach sinnend, warum ich eine private Spedition der staatlichen Yemenia Cargo vorgezogen hatte. Meine Rückkehr fiel auf den zweitletzten Tag des Fastenmonats Ramadan.

Als ich unser Altstadthaus in Sana'a nach fast 2 Monaten der Abwesenheit wieder betrat, konnte ich schon in der Eingangshalle einige Veränderungen wahrnehmen: Die Haustuer war unverschlossen!! Der Kühlschrank, der eigentlich zu meiner bzw. Jespers Wohnung gehörte, war verschwunden. Evelyns Ahnungen schienen sich zu bewahrheiten: Der Vermieter hatte den Kühlschrank in die obere Wohnung geschafft, weil Evelyn ihren an den DED zurückgegeben hatte.

Das ganze Ausmaß der Veränderungen erkannte ich erst, als ich im Hausflur die Bekanntschaft mit Jennifer machte. Jennifer, so stellte sich heraus, hatte Ende September die obere Wohnung bezogen. Der Vermieter hatte unsere Absprache in den Wind geschlagen, - wie er später sagte, weil ich nicht erreichbar war... Aber das war vielleicht nur ein Vorwand.

Nach der ersten Schreckminute überlegte ich, welche Konsequenzen die neue Situation für mich haben würde. Jesper würde in ein paar Tagen aus Dänemark zurückkehren, und zwar ins SEINE Wohnung (in der ich seit Juni lebte). Es blieben mir 3 Tage, um eine andere Wohnung zu finden, was angesichts der anbrechenden Eid AL Fitr Feiertage eine Herausforderung war.

Jennifer beruhigte mich: 'Wenn Du nichts findest, kannst Du erst einmal bei mir oben unterkommen'.

Gesagt, getan. Als Jesper kam, zog ich mit Koffern und Kisten nach oben in Jennifers Wohnung (die ja eigentlich Jesper hätte beziehen sollen). Nach ein paar Tagen kamen Jennifer und ich überein, daß ich nicht nur die nächsten Tage und Wochen bleiben könnte, sondern die Wohnung auch für die Zeit danach, d.h. wenn ich in Syrien arbeiten würde, als meinen Zweitwohnsitz betrachten dürfte.

Jennifer arbeitete als 'Editor' in einer der beiden englischsprachigen Zeitungen. Ihr Gehalt war 'jemenitisch', weshalb sie dankbar mein Angebot annahm, einen Mietanteil zu zahlen. Jennifer war fast jeden Abend bis mindestens acht Uhr in der Redaktion. An den beiden Abenden vor der Herausgabe der Zeitung sah ich sie nie. 'Workaholic...', meinte ich trocken. Sie aber entgegnete: ,schlechte Organisation!' Tatsächlich schaffte sie es im Laufe der Wochen und Monate, ihre Truppe so zu organisieren, daß die Arbeitsabende kürzer wurden.

Wenn sie dann nach Hause kam, wartete meistens schon ein vegetarisches Abendessen auf sie. - Denn welch Zufall: Jennifer ist auch Vegetarierin, wenn auch keine extreme wie ich....

Das Gepäck
Ein erster Gang nach der Rückkehr in den Jemen führte mich am Morgen danach zu ITS. Doch die Tore der Spedition waren fest verriegelt. Da ich nicht annehmen wollte, daß die Firma mittlerweile ganz ihre Dienste eingestellt hatte, vermutete ich, daß sie die EID Feiertage, wie das viele taten, vorgezogen hatten. Ich mußte wohl oder übel eine weitere Woche in Ungeduld verbringen, ehe ich NACH den Eid Al Fitr Feiertagen Sony in alter Frische antraf. Seine Überraschung war groß, wenn auch nicht wirklich FREUDIG. Sein Gesicht spiegelt Verlegenheit. Es war offensichtlich, daß er mit mir ganz bestimmt nicht gerechnet hatte. Jetzt konnte er sich auch nicht mehr verleugnen lassen. Ich war da, und er mußte sich dem Problem stellen. Mich interessierte nur eines: WO war mein Gepäck?

Meine Kisten waren noch da, ALLE. Gelagert in einer Baracke im Hinterhof. Und meine Kisten waren keinesfalls die einzigen.

Eine plausible Erklärung für den NICHTtransport, die vielen leeren Vertröstungen etc. gab es nicht. - 'Sie sehen doch, daß hier niemand ist ...' mit einer weitläufigen Handbewegung signalisierte Sony, daß er ganz allein gelassen sei... (offensichtlich zählten für ihn die Handvoll jemenitischer Mitarbeiter um ihn herum nicht.)

Seine Erklärung befriedigte mich keineswegs. 'Zu normalen Zeiten', sagte er, 'hätten wir die Fracht einmal nach Deutschland und zurück befördert. Was heißt hier einmal! Normalerweise hätten wir die Fracht DREIMAL in der Zeit HIN- und ZURÜCK schaffen können!!"

'Mir hätte EINMAL HIN völlig ausgereicht!', sagte ich zu mir im Stillen. Ich ließ Sony reden und hatte längst entschieden, die Kisten keine Minute länger in Sonys Obhut zu lassen. Man sollte das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Sony gegenüber erklärte ich, daß ich nun den gesamten Transport neu überlegen müsse, da ich nunmehr von Jemen aus direkt (nicht über Deutschland) nach Syrien umsiedele.

'Kein Problem', sagte Sony, 'Überlegen Sie, packen Sie um und lassen Sie es uns in den nächsten Tagen wissen. Ich schicke dann einen Transporter rüber, um das Gepäck wieder abzuholen. Wir verrechnen dann die Kosten mit dem schon gezahlten Betrag.'

Vielleicht hätte ich in dem Moment intervenieren müssen. Nach all den negativen Erfahrungen hätte ich vorgewarnt sein müssen. Doch in dem Moment war ich so erleichtert, meine Sachen wieder in meinem Besitz zu wissen, daß mir die monetären Aspekte zweitrangig erschienen.

Nach einigen paar Tagen schaute ich ein zweites Mal bei Sony vorbei, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen, KEINE Kisten mehr zu verschicken, sondern das Gepäck peu à peu als begleitetes Fluggepäck mitzunehmen. Sony wollte gerade dazu ansetzen, mir vorzurechnen, daß mich das VIEL zu teuer kommen würde, als ich ihm die Endgültigkeit meiner Entscheidung signalisierte. (Mir war es schleierhaft, wie Sony auch nur einen Augenblick lang annehmen konnte, daß ich jemals wieder auf den absurden Gedanken kommen könnte, seine Dienste in Anspruch nehmen zu wollen.)

Schließlich ließ er den Taschenrechner wieder zu Tisch sinken.

'Könnte ich bitte mein Geld zurückbekommen?' war meine letzte unschuldig vorgebrachte Frage, die aber nur mit einem verlegenen Blick in eine bestimmte Ecke des Büros beantwortet wurde.

Die ausführliche Erklärung lautete: 'der Buchhalter ist jetzt nicht mehr da. Ich rufe Sie morgen früh an.' Unverrichteter Dinge zog ich ab.

Sony rief natürlich nicht an. Nicht an dem nächsten Morgen, und nicht am darauffolgenden. Ich griff selbst zum Hörer. Diesmal sagte Sony, er habe kein Geld in der Kasse, versprach aber am nächsten Morgen zurückzurufen. Als er das erwartungsgemäß nicht tat, versuchte ich ihn am Nachmittag zu kontaktieren. Da er sich nicht auf dem Handy meldete, rief ich die Landleitung an. Sony meldete sich - sein indischer Akzent verriet ihn. Die Stimme murmelte etwas, dann war nichts mehr zu hören... Ich wählte erneut. Nichts... 10 Mal ließ ich es im Abstand von 1 Minute klingeln, bis – mein Konzept ging auf - sich eine Stimme meldete. Diesmal war es nicht Sonys Stimme, sondern die des Wächters, wie er mir sagte. Mr. Sony sei gar nicht da, sagte er in Arabisch.

Da platze mir die Hutschnur: "Ich habe vor 10 Minuten seine Stimme am Telefon gehört. Er ist da. Und wenn er mit mir nicht sprechen will, dann sagen Sie ihm bitte von mir, daß er mir mein Geld zurückgeben soll, sonst werde ich ärgerlich.'

Was ging nur in Sonys Gehirn vor? Oder lag es an meinem naiven Äußeren, das meine Mitmenschen immer wieder glauben ließ, sie könnten es ja mal versuchen...

Um meinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, stattete ich Sony am Abend einen Besuch ab. Es war mal wieder Stromausfall. Sony stand mit dem Wächter draußen vor der Tür. Mein Besuch schien ihn zu überraschen. 'Den Buchhalter habe ich nach Hause geschickt. Kein Strom', sagte er achselzuckend.

'Sehe ich', meinte ich lakonisch. 'Ich komme morgen früh wieder, und wenn das Geld dann nicht bereit liegt, dann komme das darauf folgende Mal mit der Polizei', fuhr ich fort, diesmal allerdings nicht mehr lakonisch, sondern sehr bestimmt.

'Ich melde mich gleich morgen früh!' versprach Sony.

Wer hätte es geglaubt?! Um 6.52 Uhr klingelte das Handy neben meinem Bett - noch von meinem Wecker. Sony. Er werde die Rückzahlung der 440 Dollar heute noch regeln. Ich solle mich bitte bis zum Mittag gedulden, er werde um die Mittagszeit wieder anrufen, um die Details der Übergabe zu klären.

Dann lief alles am Schnürchen. Am Nachmittag überreichte mir Sony endlich das Geld, und ich war froh, nie wieder etwas von ITS und Sony zu hören.

Dann rief er doch noch einmal an: 'Ich habe mir die Rechnung noch einmal angesehen, sagte Sony: 'und wollte nur fragen, ob wir die Verpackung damals übernommen haben und das vielleicht vergessen haben, zu berechnen.'

Diese Probe meiner Geduldfähigkeit bestand ich eindeutig nicht. Das war zu viel des Guten. Viel zu viel. Ich erklärte Sony zur Auffrischung seines Gedächtnissen, daß ich die Verpackung selbst übernommen hatte und überschüttete ihn mit einer Tirade, welche Kosten, die ich ihm nicht in Rechnung gestellt hatte, und Nerven mich die ganze Geschichte gekostet hatte.

Als ich geendet hatte, wiegelte Sony entschuldigend ab: 'Ich wollte ja nur wissen, ob wir noch zusätzliche Kosten hatte. Jetzt weiß ich, daß das nicht der Fall war. Mehr wollte ich nicht wissen', sprach's und verabschiedete sich.

Die Jemen-Reportagen sind damit leider abgeschlossen.
Wer weiterlesen möchte, wird auf die Syrien-Seite gebeten.
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© Copyright Text, Graphik und Photos: Anne Christine Hanser 2006-2007
Autorin: Anne Christine Hanser, International Advisor, Support for Administrative Reform, Sana'a, Jemen
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