Bernhard Peter
Im Banne der Lokeshvara-Antlitze: Angkor Thom

Angkor Thom, die „große Hauptstadt“, wurde von Jayavarman VII, dem unermüdlichen Bauherrn des späten Angkors, nach seinem Sieg über die Cham, die 1177 Angkor plünderten, ca. um 1200 als Hauptstadt erwählt und ausgebaut, wobei mehrere frühere Bauten in das Ensemble eingeschlossen wurden, die stilistisch einer anderen Epoche angehören. Die gesamte Bautätigkeit Jayavarmans VII schwankt zwischen Genialität und Größenwahn, zwischen Besorgtheit um Unsterblichkeit seiner Person und seiner Hauptstadt einerseits und Machtdemonstration andererseits. Angkor Thom ist umschlossen von einem gigantischen Mauerquadrat von 3 km Seitenlänge und 8 m Höhe mit umlaufendem Wassergraben von 50 m Breite und 5 m Tiefe. Innen war nochmals ein schmälerer Wassergraben. Man nimmt an, daß diese Hauptstadt insgesamt 1 Million Menschen bewohnten, es war die größte und mächtigste Stadt ihrer Zeit. Das einfache Volk lebte dabei natürlich außerhalb der Mauern.

Der Bayon:
Dieses Abbild des Weltenberges Meru ist eines der außergewöhnlichsten Bauwerke in Angkor. Außergewöhnlich zum einen wegen der Omnipräsenz seiner Gesichter, zum andern wegen seiner äußerst komplexen und fast undurchschaubaren, auf den ersten Blick chaotischen und erst beim näheren hinsehen logischen Architektur, und zum dritten außergewöhnlich wegen seiner erzählenden Reliefs in den Außenbereichen, die uns ein anschauliches Bild des alltäglichen Lebens der alten Khmer vermitteln.

Ca. 54 Türme unterschiedlicher Höhe gibt es im Bayon, an jeder wichtigen Ecke bzw. Kreuzung von Galerieelementen steht einer, dazu noch als isoliertes Bauteil auf der obersten Plattform. Jeder einzelne ist mit den vier charakteristischen Gesichtern des Lokeshvara versehen, dessen steingefrorenes Lächeln einen aus jeder Ecke verfolgt. Der zentrale Turm auf der höchsten Ebene hat sogar acht Gesichter. Lokeshvara ist allgegenwärtig und unentrinnbar, ständig ist man begleitet und beobachtet von mehreren dieser über 200 Gesichter, alle gleich unergründlich vor sich hin lächelnd, deren Lächeln einem unter die Haut geht und doch so unnahbar ist. Besonders reizvoll ist auch der Kontrast zwischen den ohne Mörtel gefügten zyklopischen Steinblöcken und der Feinheit der Darstellung.

Ein gewisser Widerspruch wird deutlich: Rein ikonographisch ist der Tempel nicht nur ein Meru, sondern auch ein Mandala, das man durchschreitet auf dem Weg zu seinem Mittelpunkt, bei einem einzelnen Besuch genauso wie im Laufe eines gesamten Lebens. Außen liegen die Ebenen des Alltags, die man schrittweise hinter sich läßt, man befreit das Sein vom Alltäglichen, man nimmt mehr und mehr das Absolute in sich auf, während man auf die höheren geistigen Ebenen zuschreitet. Fernziel ist der innerste bzw. höchste Punkt, der dem Erreichen höchster Erleuchtung und dem Eingang ins persönliche Nirwana entspricht. Dazu paßt eigentlich gar nicht die Omnipräsenz der Gesichter mit den Zügen des Herrschers, dieser Personenkult, denn Nirwana bedeutet das Unwichtigwerden der individuellen Person, das Entwerden des Seins, das Aufgehens des Tropfen Wassers im Ozean der Erkenntnis, die Befreiung überhaupt. Es ist, als wollte Jayavarman VII seine irdische Macht mit hinüberretten, als wollte sich der Herrscher auf mehreren Wegen seiner eigenen Unsterblichkeit versichern. Noch auf der Stufe der höchsten Erkenntnis will er anscheinend in Gestalt des Lokeshvara die vier Himmelsrichtungen beherrschen.

Der Bayon ist zeitlich eines der letzten großen Bauwerke, rund ein Jahrhundert nach Angkor Wat begonnen. Bauherr ist der bauwütige Jayavarman VII. Die unterste Stufe mißt ca. 150 x 140 m, die zweite 70 x 80 m. Die dritte Ebene springt nur wenig zurück, so daß in der zweiten ebene nur in den Ecken rechtwinklige Lichthöfe entstehen. Das architektonische Konzept ist an sich schon komplex und wird durch Erweiterungsphasen nicht gerade vereinfacht. Man nimmt an, daß in einer ersten Phase ein flacher Tempel errichtet wurde (passend zu den anderen flachen Gründungen jener Zeit). In einer zweiten Phase wurde der Mittelteil errichtet, beim letzten Umbau kam der große zentrale Teil hinzu. Wir haben hier einen Tempel auf drei Ebenen. Die unteren beiden Ebenen werden von quadratischen Galerien umgeben. Hier finden sich auch die schönen Reliefs aus Geschichte und Leben der Khmer.

Übrigens – wir sind gewohnt, das Wort „Khmer“ so auszusprechen, wie wir es lesen. Geprägt wurde diese Gewohnheit durch die französischen Entdecker und Archäologen. Die heutigen Bewohner sprechen das Wort aber wie „Khmeier“, so wie der deutsche Name „Meier“ mit K am Anfang. Aus Höflichkeit wollen wir es also besser auch so handhaben.

Die dritte Ebene ist komplex: In den vier Ecken stehen Galeriekonstruktionen, die grob vereinfacht winkelförmig sind, Winkel mit gewinkeltem Innenhof. Somit ergibt sich dazwischen eine Freifläche in Form eines getreppten Kreuzes gleicher Armlänge. In der Mitte erhebt sich der polygonale Zentralbau. Auf der Freifläche der dritten Ebene stehen noch viele kleine Gebäude, die nicht gerade zur Übersichtlichkeit beitragen. Der zentrale Bau ist besonders originell: Er verläßt das Schema kreuzförmiger oder allgemein rechtwinkliger Grundrisse. Um die kreisförmige Mittelzelle mit Umgang liegen acht radial angeordnete rechtwinklige Heiligtümer, dazwischen acht trapezförmige Einheiten, jeweils mit Laubengängen. Das kreisförmige Motiv ist vielleicht eine Remineszenz an ein Stupa-Konzept, dazu paßt der ringförmige Gang außenherum zum Umwandeln der Stupa (Pradakshina). Im Osten befindet sich ein Vorbau aus vier Räumen mit doppelten Laubengängen. Der zentrale Prasat hat einen Durchmesser von 25 m und erreicht eine Gesamthöhe von 43 m.

Die Reliefs sind erzählende Flachreliefs, die wie eine Tapete die Außenwände der unteren ebenen überziehen. Sie sind längst nicht so edel und elegant wie in Angkor Wat, dafür narrativer und lebhafter. Schlachtenszenen, Fischer vom Tonle Sap, Ruderboote, wo sich gerade ein Krokodil ins Ruder verbeißt, Hahnenkämpfe, triumphale Prozessionen, Kämpfe gegen die immer wieder einfallenden Cham (typisch die eigenartige Kopfbedeckung) oder gegen die Thai, eine Geburtsszene, Artisten, meditierende Asketen, eine Seeschlacht, Diebe, Männer beim Schachspiel, Markt- und Küchenszenen, Opferung eines Rindes, Elefanten, Musiker, Sänftenträger, Generäle unter ihren Ehrenschirmen – das sind die Themen der untersten Ebene. Diese Ebene war für das Volk zugänglich und die Szenen dienten als Lehrstück für Geschichte und Religion. Die Reliefs auf der zweiten Ebene sind nicht so zusammenhängend, weil sie immer wieder durch Galerieöffnungen unterbrochen werden. Themen sind hier klassische Mythologie, Quirlen des Milchozeans, Szenen aus Ramayana und Darstellungen aus dem Leben des Königs. Während auf der ersten Ebene das Volk die Darstellungen beherrscht, dominieren hier Herrscher und Götter.

Photogalerie Angkor Thom, der Bayon

Die Elefantenterrasse:
Im Norden des geometrischen und religiösen Zentrums der Stadt liegt ein großer Platz, an den der Königspalast im westen anstößt und von dem nach Osten die fünfte Straße direkt zum fünften Stadttor, dem Siegestor wegführt. Der Platz ist gesäumt von einer ca. 350 m langen Terrasse, die erst vor kurzem restauriert wurde und einen wunderschönen Anblick bietet. Die Terrasse selbst ist langgestreckt, mit vorgezogenen Außenflügeln und ebensolchem Mittelteil. Vermutlich diente sie Herrscherhaus und Würdenträgern in der Mitte, dem Volk am Rand, als Tribüne bei Veranstaltungen wie z. B. Umzügen, Paraden, Sport und Spielen auf dem zentralen Hauptplatz der Stadt. Der für das Herrscherhaus reservierte Teil in der Mitte ist durch Naga-Geländer abgetrennt. Es ist anzunehmen, daß die Tribüne früher durch eine Holzkonstruktion überdacht war, Bleiziegel hat man ausgegraben. Das Faszinierendste an dieser Tribüne sind die Darstellungen an der ca. 3 m hohen Außenfläche. Zum einen finden wir wieder das Reittier Indras, den Lotos pflückenden dreiköpfigen Elefanten, bevorzugt an den Treppenaufgängen. Die Reliefs zeigen Elefanten in vielfältiger Darstellung, dazu Garudas und Löwen. Die erhöhte Mitteltribüne zeigt wieder Indras dreiköpfigen Elefanten sowie Hamsas. Eine Hamsa ist das Reittier Brahmas und ähnelt am meisten einer Gans oder einem Schwan.

Photogalerie Angkor Thom, Elefantenterrasse

Terrasse des Leprakönigs:
Im Norden der Elefantenterrasse liegt eine weitere, kleinere Terrasse, deren wahre Schätze geheimnisvoll verborgen sind. Das Bauwerk ist ca. 6-8 m hoch und präsentiert sich als ein Erdhügel, dessen zickzackartig gebrochene Vorderwand mit sehr plastischen, aber stark verwitterten Reliefs in bis zu 7 Ebenen überzogen ist. Die Reliefs der Außenverkleidung stammen aus dem 13. Jahrhundert und stellen in puncto Plastizität alles bisher Dagewesene in den Schatten. Doch die wahren Kleinodien der Steinmetzkunst liegen dahinter: Die Zickzackmauer ist nur Verblendung. In Norden und Süden kann man durch einen schmalen Spalt den Zwischenraum zwischen dieser Verkleidung und der Terrasse selbst betreten. Ein vielfach gewinkelter enger Gang windet sich zwischen der Terrasse und der vorgeblendeten Mauer. Hier sind die schönsten und plastischsten Steinmetzarbeiten überhaupt zu finden. Versteckt an der Innenwand befinden sich in drei ebenen übereinander bestens erhaltene Halbreliefs von mehrköpfigen Schlangen, Menschen und Dämonen sowie Tänzerinnen. Warum ist diese hervorragende Arbeit so verborgen? Es gibt verschiedene Theorien, die vom Erweiterungsgedanken durch einen späteren Bauherrn bis zur bildlichen Verbergung der Unterweltsdarstellungen hinter der äußeren, wirklichen Welt reichen. Die Terrasse ist perfekt restauriert, fast ein wenig zu perfekt, wird doch die Gegenseite zu den herrlichen Darstellungen von einer roten Zementwand gebildet, ein harter Kontrast. Aber was soll’s, es ist erhalten, und die Augen sind eigentlich vollauf mit der atemberaubenden Schönheit der einen Seite des Ganges voll beschäftigt.

Photogalerie Angkor Thom, Terrasse des Leprakönigs

Sonstige Bauwerke:
Die Siegesstraße wird von den 12 Prasat Suor Prat flankiert, 12 Türme, die z. T. gerade restauriert werden, deren Bedeutung unklar ist. Östlich neben den 12 Türmen stehen nördlich und südlich der Siegesstraße zwei Kleangs aus der Zeit Jayavarmans V, die zur Zeit ebenfalls von Teams verschiedenster Nationen restauriert werden.

Der Phimeanakas („himmlischer Palast“):
Der Bergtempel stammt aus älterer Zeit (11. Jh.), ist vergleichsweise klein (35 x 28 m an der Basis) und kompakt und hat viele Elemente der frühen Bergtempel. Eine steile, dreistufige Pyramide von 12 m Höhe (aus Laterit) trägt einen einzigen Prasat aus Sandstein, in alle vier Himmelsrichtungen offen, auf dem Grundriß eines griechischen Kreuzes. Auf der obersten Plattform befindet sich architekturgeschichtlich die erste Galerie, welche gänzlich aus Sedimentgestein erbaut wurde. An den Ecken der Terrassen waren früher Elefanten, wie auch im östlichen Mebon (nur sind die dort besser erhalten), von denen aber nur noch Reste künden. Die steilen Treppen werden von Löwenfiguren flankiert. Der Tempelberg steht fast im Zentrum des Bereiches des Königspalastes, der von einer eigenen Mauer umgeben ist.

Nördlich des Phimeanakas, an der nördlichen Palastmauer, sind zwei große Wasserbecken unter uralten Bäumen, das größere soll einst das Schwimmbad für Männer, das kleinere dasjenige für die Damen gewesen sein. Die Stufen zeigen schöne Reliefs von Garudas, Nagas und Fischen. Insgesamt fünf Gopuras mit kreuzförmigem Grundriß regelten den Zutritt zum Palastbereich, davon sind der nordöstliche und der östliche direkt hinter der Elefantenterrasse die schönsten um am besten erhaltenen. Im Palastbereich selbst sind keine Wohngebäude zu finden, vermutlich lebte selbst das Herrscherhaus in vergänglichen Holzbauten.

Photogalerie Angkor Thom, Phimeanakas

Der Baphuon:
Der Baphuon ist ebenfalls ein älterer Bau aus dem frühen 11. Jahrhundert, er liegt zwischen dem Bayon und dem Königspalast. Er wird seit Jahrzehnten restauriert, denn der Haupttempelberg von 100 x 120 m Basisfläche und fünf Ebenen ist komplett in sich zusammengestürzt. Er war einst 43 m hoch. Der Berg wurde künstlich aufgeschichtet, unzureichend verdichtet, und das kolossale Gewicht der Galerien führte zum Kollaps. Einst war er von ausgesucht schönen Galerien umgeben, die man heute noch nicht einmal erahnen kann. Durch ein schönes Eingangstor mit kreuzförmigem Grundriß gelangt man auf einen steinernen Steg, eine Besonderheit dieser Anlage. Zwischen zwei rechteckigen Wasserbecken (Srah) hindurch führt eine Straße, die auf Hunderten kleiner Pfeiler ruht. Sie endet vor einem gigantischen Trümmerberg. Die losen Steine sind fast gänzlich abgetragen, liegen chaotisch verstreut auf den Freiflächen unter den Bäumen, einzeln numeriert und schon längst wieder mit Moos überzogen, die Farbe der Nummern ist mancherorts kaum noch zu erkennen. Das Restaurierungsprojekt ist eine Sisyphos-Arbeit. Jeder Stein wurde zwar vermessen, um per Computer seine exakte Position zu finden, aber das eigentliche Problem, mit dem man derzeit beschäftigt ist, ist die Stabilisierung des Berges selbst mit neu eingezogenen stützenden Betonwänden. Ehe die innere Struktur des Tempelberges nicht stabilisiert ist, kann man keinen einzigen Stein wieder an Ort und Stelle bringen. Es sieht derzeit nicht so aus, als würde das in absehbarer Zeit der Fall sein. Man darf gespannt sein auf das Ergebnis, markiert dieser Tempelberg doch ein wichtiges Bindeglied zwischen der Architektur der alten Bergtempel (z. B. Phimeanakas) und den Galerietempeln wie Angkor Wat.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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