Bernhard Peter
Angkor Thom - Ikonographie einer Stadt

Man stelle sich die Situation vor: Das Trauma des letzten Überfalls der Cham sitzt tief. Die Cham sind 1177 bis in die Hauptstadt Angkor vorgedrungen und haben sie geplündert, was tief am Selbstbewußtsein des durch Gottkönige geführten Reiches nagte. Revanche! Nach dem großen Sieg über die plünderischen Cham wurde eine neue Hauptstadt gebaut – Angkor Thom. Diese Hauptstadt war das Zentrum des jetzt wieder bestätigt mächtigsten Reiches in Südostasien. Man fühlte sich, als ob man wieder der Nabel der Welt war. Zugleich sollte die neue Hauptstadt unbesiegbar und unsterblich sein. Wie wird das in der Architektur ausgedrückt?

Über jeden Wassergraben führt eine breite Brücke. Die Brücke wird von zwei Nagaschlangen als Geländer flankiert. Auf der linken Seite (zur Stadt hin blickend) wird die Schlange von 54 Göttern (Devas, mandelförmige Augen, freundliche Gesichter, kegelartige Kopfbedeckungen, leider sind viele enthauptet) getragen, auf der rechten von 54 Dämonen (Höllengeister, Asuras, grimmiger Gesichtsausdruck, gebleckte Zähne, Kugelaugen, Helme), wie auch in anderen Anlagen seiner Zeit, z. B. Preah Khan. Hier haben wir wieder die heilige Zahl 108 – siehe das beim Bakheng Gesagte! Der Bezug zu 108 Hauptnamen Shivas, zu 108 Perlen der Mala, des indischen Rosenkranzes, der Multiplikation der Tage des Sternenmonats mit der Anzahl der Mondphasen ist auch hier wieder gegeben. Götter auf der einen Seite, Dämonen der Unterwelt auf der anderen Seite – erst die Gegensätzlichkeit entfacht die Dynamik des Seins, des Lebens.


Ähnliches Geländer vom Preah Khan

Dieses Element wiederholt sich insgesamt fünfmal, auf jeder Seite der quadratischen Stadt einmal, entsprechend jeder Himmelsrichtung, und auf der Ostseite einmal zusätzlich. Warum diese Asymmetrie? Alle vier von den Toren nach innen führenden Straßen – wassergrabengesäumt - stoßen auf das Zentralheiligtum, den Bayon, der das religiöse und geometrische Zentrum der Stadt bildet. Doch nördlich befindet sich das Regierungsviertel mit Königspalast und Paradeplatz, und die fünfte Straße führt durch das exzentrisch gebaute Siegestor direkt über den Paradeplatz auf den Königspalast zu.


Angkor Thom, Siegestor

Die Welt liegt getreu hinduistischer Mythologie hinter einer Felsmauer (Stadtmauer), welche vom kosmischen Ozean (Wassergraben) umspült wird. Die Nagas des Brückengeländers sind Symbol der Schlange Vasuki, der Urschlange aus der hinduistischen Mythologie, Symbol des Regenspendens, wobei Regen ein Zeichen des Wohlwollens der göttlichen Kräfte ist, sowie des Regenbogens, der Himmel und Erde, göttliche und menschliche Welt verbindet, ein treffendes Symbol für die Brücke zwischen Herrschaftszentrum und auch religiösem Zentrum einerseits und ländlichem Umfeld andererseits. Auch die späten Khmer-Herrscher blieben der Tradition treu, ihre Bauten zum Abbild der makrokosmischen Ordnung werden zu lassen, gleichsam durch Nachbau der allgemeinen Ordnung nach hinduistischer Mythologie ihrer hauptstädtischen Ordnung die Legitimität der göttlichen Ordnung verleihend. Neben seiner militärischen Funktion symbolisiert der Angkor Thom umgebende Wassergraben das Urmeer, den Milchozean, durch dessen Quirlung die Welt (Stadt) entstanden ist. Die Geister des Himmels (Devas) und der Hölle (Asuras) fassen die Nagaschlange und bringen mit ihrer Hilfe das Universum zum Kreisen, und diese Bewegung erzeugt Leben (Amrita, Lebenselixier) – ein Leben in Wohlstand, wie es im Reich dank der weisen Führung durch König Jayavarman den Bewohnern gewährt wird. Die Kräfte des Lichtes und diejenigen der Finsternis ringen vor den Toren der Stadt mit der Weltenschlange, um das Lebenselixier, das die Hauptstadt des Reiches unsterblich und unbesiegbar macht. Und im Zentrum der Welt bzw. Macht steht Meru alias Bayon als Weltenberg, als Achse des Universums im Kleinen wie im Großen.

Die Stadttore: Jedes Stadttor ist insgesamt 23 m hoch. Der spitzgewölbte (Kragsteingewölbe) Durchgang wird überhöht von einem Turm, der insgesamt 4 Gesichter zeigt, in jede Himmelsrichtung eines. Diese viergesichtigen Aufsätze sind das Markenzeichen aller unter Jayavarman VII errichteten Ensembles. Das Gesicht stellt Lokeshvara dar, den Bodhisattva des Mitgefühls. Früher nahm man an, daß es sich um Brahma handelte, den hinduistischen Schöpfergott, der zum Zeichen seiner Allgegenwart mit 4 Köpfen dargestellt wird, was sich aber als unrichtig erwies. Ein Bodhisattva ist ein Wesen, das im Zyklus der Wiedergeburten die höchste Stufe der Erleuchtung erreicht hat, praktisch an der Schwelle zum Nirwana steht und durch Eingang in dasselbe zum Buddha werden könnte und den Zyklus aus Geburt und Wiedergeburt hinter sich lassen könnte. Aus Mitleid und Barmherzigkeit verzichtet ein Bodhisattva aber auf Eingang ins Nirvana, kehrt zur Erde zurück und hilft den Menschen auf ihrem Weg. Es ist die Existenz dieser Bodhisattvas, die unter anderem den Mahayana-Buddhismus vom Hinayana- (Theravada-) Buddhismus unterscheidet. Lokeshvara ist genau ein solcher Bodhisattva. Daß die Züge – unabhängig von der mythologischen Bedeutung – denen des Herrschers Jayavarman VII angepaßt sind, darf angenommen werden.

Im unteren Teil sieht man ein weiteres Element, das sich in Angkor Thom noch häufig wiederholt: Den dreiköpfigen Elefanten mit drei Rüsseln, der Lotusblüten pflückt. Dieser Elefant ist das Reittier des Regen- und Kriegsgottes Indra.

Insgesamt haben wir also eine ausgesprochene Schutzsymbolik in diesem Bauwerk, zu der sich hinduistische und buddhistische Elemente vereinigen: Die Stadt wird beschützt durch giftige Schlangen, durch die Gewinnung des Lebenselixieres, welches Unsterblichkeit verleiht, durch den Wächtergott und Anführer der himmlischen Heerscharen Indra mit seinem Blitzstrahl Vajra, durch ihre Gleichsetzung mit der mythologischen Welt an sich, durch die Mächte des Lichtes wie die der Finsternis in persona, dazu noch durch den Bodhisattva der Barmherzigkeit, mal abgesehen von den militärischen Elementen wie Mauer und Wassergräben. Der Wohlstand der Stadt wird garantiert durch die Symbolik des Wasserspendens, vertreten in der Nagaschlange und im Regengott Indra.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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