Anne Christine Hanser
Reportagen aus Syrien, Teil 3:
Nasr - der Sieger. Oder: Das Internetcafé

Es ist – wie kann es anders sein - halb fünf an einem sonnigen Nachmittag, den ich besinnlich, die Nachmittagssonne genießend, auf meinem kleinen Balkon verbracht habe. Da gestern und heute Wahltage waren, schloß diesmal das Institut, in dem wir provisorisch untergebracht sind, nicht erst um halb drei, sondern schon um 1 Uhr (nach)mittags.

Vor Wochen schon kündigten bunte Photoplakate die Wahlen an – wie mir ein syrischer Kollege erklärte, handelt es sich allesamt um unabhängige Kandidaten für das Parlament. Die Kandidaten der regierenden Baathpartei, die mindestens 51 Prozent des syrischen Parlaments ausmachen, wurden vorher parteiintern bestimmt. Ein paar der Portraits zeigen auch Frauengesichter, ältere wie jüngere, manche mit Kopftuch, manche ohne, was in jedem Fall die Wiedererkennung erleichtert (im Gegensatz zu den Plakaten der weiblichen Kandidaten bei den jemenitischen Kommunalwahlen vor einem halben Jahr, deren Wiedererkennung erheblich von den schwarzen Gesichtsschleiern, auch Burqa genannt, behindert wurde. Jemeniten haben glaubhaft berichtet, daß sie die eigene Schwester auf der Strasse nicht wiedererkannt haben, was gelegentlich zu peinlichen Situationen führen kann.)

Den Wahlen hier in Syrien haben wir nicht nur die beiden frühen Nachmittage zu verdanken, sondern auch die wundervolle Überraschung im Internetcafe um die Ecke.

Bevor ich darauf zu sprechen komme, muß ich doch ein paar allgemeine Worte zum Internet bzw. Email verlieren... Wer unseren engelsgleichen Teamleiter (Angelo = Nomen est omen) auf ‚Internet’ anspricht, kann an der un-zweideutigen Mimik seines ansonsten so unschuldigen Antlitzes erkennen, daß dieses Thema mit einer gewissen Spannung verbunden ist und gelegentlich Erfahrungen tiefen Leids wachruft. – Der Fairneß halber aber muß gesagt werden, daß sich die Situation seit dem Amtsantritt des gegenwärtigen Präsidenten vor einigen Jahren drastisch geändert – sprich verbessert - hat. Noch vor wenigen Jahren – d.h. VOR dem Amtsantritt – gab es schlicht kein Internet (sagt mein Reiseführer). Leider hat unser Teamleiter die Ausgangssituation nicht miterlebt und stellt allenthalben Vergleiche mit der gegenwärtigen Situation in Italien an. Er wird dabei moralisch unterstützt von meinem Kollegen Mohammed, der seinerseits pakistanische Dörfer mit Internetanschluß in Feld führt. – Peter, unser dritter Kollege, hält sich aus dieser Diskussion vornehm britisch heraus.

MEIN Internetcafe befindet sich gleich um die Ecke meiner Wohnung, nicht weit von der Brotfladenfabrik entfernt, deren süßliches Backaroma die Tatsache verschleiert, daß es in Syrien ganz im Gegensatz zu meinem geliebten Jemen kein leckeres (Fladen)brot gibt. Aber davon ein andermal.

Üblicherweise ist mein Internetcafe leer, und deshalb auch nicht so stark verraucht wie manch anderes Internetcafe in der City. Freundlicherweise öffnet einer der jungen Männer, Nasr, auf meine bloße gestikulierende Andeutung bereits die Tür zur besseren Ventilation. Der Grund, warum das Internetcafe so erfreulich leer ist, ist, daß es nie on-line ist. Das heißt, die fünf oder sechs Male, die ich VOR der Wahl dort meine Referenz erwies, war die Leitung immer gerade zusammengebrochen und man erwartete, daß sie ganz bald wieder zur Verfügung stünde. Da meine Toleranzschwelle dank meiner lokalen Adaptation mittlerweile bei 1 Stunde Wartezeit liegt (danach ziehe ich es dann doch vor, nach Hause zu gehen und mein Glück mit meiner eigenen analogen Schneckenleitung zu versuchen), kenne ich die Crew des Internetcafes nicht nur den Gesichtern, sondern (oh, Wunder bei meinem schwachen Gedächtnis) auch den Vornamen nach.

Wie gesagt, daß war vor den Wahlen. Wahlen hat was mit Wählen zu tun, und wählen muß man auch beim Telefonieren, was wiederum in engen Zusammenhang mit einer Onlineverbindung steht. So oder so ähnlich habe ich mir das schiere Wunder erklärt, daß plötzlich wider Erwarten bei meinem Besuch NACH der Wahl das Internetcafe tatsächlich Zugang zum Internet bot. Mit 100 MB per sec Geschwindigkeit brauste ich zu meinem Gmx account, dann weiter per Skype nach Deutschland… Sagenhaft. Mein Glück habe ich dann auch gleich mit meinem syrischen Kollegen, Dr. Kasem, geteilt, der bislang Stunden in diversen Internetcafes damit verbracht hatte, seine online - Bewerbung für einen Masterskurs in Großbritannien auszufüllen. Ganz stolz führte ich ihn in mein Internetcafe und wie im Flug waren die Webseiten der britischen Universität aufgebaut und die online-Registrierung ausgefüllt. Dr. Kasem, der im allgemeinen ein recht stiller und skeptischer Zeitgenosse ist, kam nicht umhin, seine Ver- und Bewunderung auszudrücken. ‚Kein Wunder’, sagte ich laut zu ihm, so daß es auch Nasr, der junge Mann vom Internetcafe hören konnte, ‚das ist ja auch ein ganz besonderes Internetcafe hier’. In Nasrs Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen, wußte er doch um die vielen Male, die ich vergeblich in Cafe gekommen war.

Ein paar Tage später sprach mich Nasr darauf an, ob wir uns nicht regelmäßig zum Arabisch-Englisch-Studium im Internetcafe treffen könnten: eine halbe Stunde Englisch, eine halbe Stunde Arabisch. Ich reagierte etwas zögerlich, frau weiß ja nie, was dahinter steckt. Aber Nasr blickte mit solch unschuldigen Kinderaugen an, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihm eine Absage zu erteilen. In der nächsten Woche – ich war inzwischen für ein paar Tage im Jemen gewesen – trafen wir uns im Cafe und fingen an zu plaudern. Es dauerte nicht lange, da hatte ich erfahren, daß Nasr Elektroingenieurswesen (oder wie das auch immer im Deutschen heißt) studierte, die meiste Zeit aber mit irgendwelchen Jobs verbrachte, wie dem im Internetcafe, was nicht ohne Folgen für die (Dauer des) Studiums blieb. Nasr erklärte mir, daß sein Vorname von dem Wort SIEG abgeleitet ist, wie generell die meisten arabischen Vornamen eine sehr konkrete Bedeutung haben.

Ich warf Nasr einen Blick von der Seite zu und befand, daß er ganz und gar nicht wie ein siegreicher Held aussah, eher wie ein jugendliches Unschuldslamm. Mit schüchterner Mine erklärte er mir, daß ihn die meisten Menschen für wesentlich jünger hielten, als er in Wirklichkeit war. Immerhin sei er schon Mitte 20. – Dann begann er mir von den Mädchen im Institut zu erzählen, die es auf ihn abgesehen haben. Tatsächlich konnte ich mir vorstellen, wie sehr meine jüngeren syrischen Geschlechtsgenossinnen beim Anblick dieses zarten Jungenantlitzes weich wurden. ‚Ich verspreche nie etwas, und ich verlange nie, daß sie mit mir schlafen. Wenn ich mit einer schlafen würde, müßte ich sie auch heiraten. Das ist hier so. Aber ich will noch nicht heiraten. Das ist viel zu früh. Außerdem hätte ich auch gar kein Geld, um eine Familie zu gründen. Das sage ich immer den Mädchen, bevor wir uns näher kommen. Ich bin immer ehrlich zu ihnen.’ Wie Nasr weiter ausführte, schien seine Offenherzigkeit die jungen Damen eher noch zu animieren.

Ein paar Tage später rief Nasr an und überraschte mich mit einem ungewöhnlichen Ansinnen. Ich hatte ihm erzählt, daß ich in der Nacht für eine Woche nach Liverpool fliegen würde, wir uns also nicht zum Arabisch – Englisch – Lernen treffen würden. ‚Du fliegst wie geplant nach Liverpool?’ fing er das Gespräch an. ‚Ja’ antwortete ich. ‚Bin gerade mit dem Kofferpacken fertig geworden.’ ‚Ich habe eine ungewöhnliche Frage’, fuhr er fort, ‚aber bitte werde nicht böse und denke nicht schlecht von mir.’ Ich erwartete, daß er mich um irgendein Souvenir aus England bitten würde und war dann doch überrascht, als er mich um die Schlüssel meiner Wohnung bat, um sich dort heimlich mit seiner aktuellen Freundin zu treffen.’

Normalerweise bin ich ein toleranter und freigiebiger Mensch. Aber diese Bitte war außerhalb der Dienstleistungen, die ich gewöhnlich anbiete, und eine Sortimentserweiterung war nicht geplant. Mehr noch wollte ich mich bei meinen Etagennachbarn nicht in den Eindruck erwecken, stundenweise Zimmer zu vermieten. Deshalb antwortete ich Nasr eindeutig und ohne Umschweife. – Nasr akzeptierte meine Ablehnung ohne Gegenargument.

Unendlich müde ließ ich mich ins Bett fallen, in der Hoffnung bis 2.30 h in der Nacht noch ein bißchen Schlaf zu finden. Dr. Kasem, mein syrischer Arbeitskollege, der nicht weit von mir entfernt lebt, würde mich mit Bruder und Mercedes abholen kommen. Für die übrigen syrischen und internationalen Kollegen war ein Minibus organisiert, mit dem sie bereits eine Stunde früher vom Gesundheitsministerium aus zum Flughafen aufbrechen wollten. – Glücklicherweise hatte ich meine Kollegen überzeugen können, daß Dr. Kassem und ich auf separatem Weg / Vehicle kämen. Das gab mir mindestens 1 Stunde Zeit für meinen Schönheitsschlaf.

Aufgeweckt wurde ich von einem penetranten Telefonläuten. Ich nahm an, es sei Dr. Kasem, und war verwundert, daß es Angelo, mein Teamleiter, war. Noch benebelt nahm ich zur Kenntnis, daß die Reisegruppe in Kürze den Flughafen erreichen würde und man mich bereits am Flughafen wähnte. Ein hilfloser Blick auf den Radiowecker zeigte mir an, daß es kurz vor halb drei wahr (um vier sollten wir fliegen). – Also noch nicht zu spät. – Ich verabschiedete mich kurzangebunden von Angelo und war in Windeseile – und das mitten in der Nacht - in meiner Reiserobe. In der halben Minute, in der ich mit Angelo telefonierte, hatte Dr. Kasem versucht mich zu erreichen. Peinlich, peinlich... Für alle Fälle – d.h. falls ich verschlafen sollte (Wäre ja nicht das erste Mal gewesen...) - hatte ich Dr. Kasem am Nachmittag meine Wohnungsschlüssel gegeben.

Später im Auto, auf dem Weg zum Flughafen kam mir in den Sinn, daß der Radiowecker, der mich üblicherweise um 7 h morgens mit Radiomusik weckte, nachts um 2 h keine große Hilfe war (da das Radioprogramm die Nacht über eingestellt wurde).

Und während ich anerkennend auf mein Mobiltelefon blickte, dankbar für Angelos und Dr. Kasems Anrufe, fiel mir die SMS auf. Nasr hatte sie mitten in der Nacht geschickt, mit dreifacher Entschuldigung und zweifachere Bitte, ihm das unmoralische Ansehen nicht übelzunehmen. Ich mußte zwangsläufig lächeln. – Ich trage seit meinem 17ten oder 18ten Lebensjahr einen Ehering, der meine Mitmenschen glauben machen soll, ich sei verheiratet. Manchmal erfinde ich eine passende Geschichte dazu. Offensichtlich verlieh mir der Ring das Image einer ehrbaren Frau. Na ja, auch nicht wirklich, sonst hätte mir Nasr erst gar nicht gefragt.

Als wir uns das nächste Mal trafen, erzählte mir Nasr von der jungen Dame, die ihn – als er von mir erzählte - gedrängt hatte, mich nach dem Schlüssel zu fragen. ‚Ich bin froh’, sagte Nasr, ‚daß Du Nein gesagt hast. Ich hatte dem Mädchen versprechen müssen, daß ich Dich nach der Wohnung fragte. Sie wollte sich nicht länger in Cafes mit mir treffen und drängte darauf, mit mir allein zu sein.’ Zu meiner Verwunderung, schien er tatsächlich erleichtert. ‚Eigentlich’, fuhr Nasr fort, ‚habe ich ein anderes Mädchen. Ich habe sie über das Internet kennengelernt. Sie lebt in Mexiko und will im Herbst für einen Monat mit 2 Freundinnen nach Damaskus kommen.’ Mexiko, fragte ich nach, dann spricht sie ja Spanisch. ‚Ja, aber wir schreiben uns in English. Deshalb habe ich Dich gefragt, ob Du mir hilfst, mein Englisch zu verbessern.’ Stolz erzählte er mir von seiner Internetfreundin, die niemals zickig sei und immer Verständnis habe.

‚Ich bin gerade dabei mit ihr zu chatten, aber ich werde ihr jetzt schreiben, daß ich im Augenblick beschäftigt bin.’ Gerade traf eine neue Chatnachricht von ihr ein. ‚Warum schreibst Du ihr nicht etwas auf Spanisch? – fragte ich hinterlistig. ;Ich spreche kein Spanisch’, antwortete Nasr. ’Wie wäre es denn mit einem einfachen: Hola! - ?’ schlug ich vor. Nasr konnte der Versuchung nicht widerstehen und hackte ‚Hola; in die Tastatur. Das Erstaunen am anderen Ende war groß. Nach mehreren Sätzen hatte die Angebetete den Eindruck gewonnen, daß Nasr sich in einen Spanischkurs in Damaskus eingeschrieben hatte und bereits 100 Vokabeln beherrschte, wie er stolz schrieb. (Ich fragte mich derweil, wie Nasr die Chat-Konversation in Spanisch in Zukunft (dh. ohne mein Zutun) betreiben würde, aber das war nicht meine Sorge.

Es vergingen einige Tage, ehe ich wieder von Nasr hörte. Er rief an und bat um ein Bewerbungsgespräch. Das heißt, genauer gesagt um ein Treffen, bei dem wir ein Bewerbungsgespräch einüben würden. Er hatte sich für einen Job in der Rechnungsabteilung einer internationalen Firma in Syrien beworben. Ein erstes Interview mit seinem potentiellen direkten Vorgesetzten, einem Syrer, hatte er bereits erfolgreich absolviert. Nun sollte ein Interview – in englischer Sprache – mit dem Vorgesetzten des Vorgesetzten stattfinden, der seinerseits KEIN Syrer war. Ich stellte Nasr alle möglichen Fragen, die er meist pfiffig beantwortete. Nur einen wunden Punkt gab es: ‚Was antwortest Du, wenn sie Dich nach Deinem Studium fragen? Du hast doch noch anderthalb Jahre vor Dir? – fragte ich naiv. ‚Das weiß doch der Interviewer nicht. Ich habe einfach angegeben, daß ich mein Studium abgeschlossen habe. Die fragen nicht nach.’ ‚Wieso bist Du Dir so sicher?’; wollte ich wissen. ‚Eine Bekannte von mir arbeitet bereits bei der Firma und hat bis heute kein Zeugnis vorlegen müssen.’ ‚Und wie machst Du das mit den Prüfungen?’ wandte ich fragend ein. Nasr hatte vor ein paar Tagen angekündigt, daß er seinen Aushilfsjob im Internetcafe wegen der bevorstehenden Uniprüfungen Anfang Juli aufgeben wolle. ;Das wird schon gehen. Mein direkter Chef weiß Bescheid, und wird mir Urlaub geben. Er will mich unbedingt haben.’

Gegen Ende des Bewerbungstrainings stellte ich die übliche Frage nach Stärken und Schwächen. Die Stärken hatte Nasr flink aufgezählt, aber die Schwächen bereiteten ihm Kopfzerbrechen. – ‚Was soll ich bloß antworten? Wenn ich etwas Negatives sage, dann nimmt mich die Firma vielleicht nicht.’ – ‚Kein Problem,’ meinte ich, ‚ wenn Dich der Interviewer fragt, dann führst Du Deine vermeintlich schlechten Englischkenntnisse an.’ Nasr nickte zustimmend.

Nach einer Woche meldete sich Nasr wieder, diesmal telephonisch: ‚Ich wollte nur mitteilen, daß ich die Stelle bekommen habe, und Dir dafür danken.’ ‚Wofür willst Du Dich bedanken. Ich habe das Interview doch nicht geführt.’ ‚Der Interviewer hat genau die Fragen gestellt, die wir eingeübt hatten. Als er mich nach meinen Schwächen fragte, habe ich mich für mein schlechtes Englisch entschuldigt. Da hat er sofort abgewehrt und mich ganz im Gegenteil für mein Englisch gelobt.’ ‚Mabruk!’, stieß ich hervor, ‚gratuliere!’

Ich mußte schmunzeln und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Na, mal sehen, wie sich Nasr auf der neuen Stelle durchschlagen würde. Erst einmal standen die Uniprüfungen an.

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© Text, Graphik und Photos: Anne Christine Hanser 2007
Autorin: Anne Christine Hanser, International Advisor, Damaskus, Syrien
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