Anne Christine Hanser
Reportagen aus Syrien, Teil 5:
Ramadhan und der Roller

Es ist Anfang September 2008. Es ist Ramadhan und… es ist heiß. Eine unglückliche Kombination, wie ich finde. Aber ich bin keine Muslima und habe mich deshalb mit derlei Bewertungen zurückzuhalten. In jedem Fall ziehe ich die heißen Sonnentage hier in Syrien einem verregneten September in Deutschland vor.

Während ich in meinem Schaukelstuhl auf dem Balkon meiner Wohnung sitze, höre ich den Muezzin den Sonnenuntergang ausrufen - begleitet von den Böllern, die die Jungs auf der Straße zünden, und dem Geklapper von Eßgeschirr aus den Wohnungen nebenan. Um die Zeit, es ist kurz nach 19 Uhr syrischer Zeit, ist man besser daheim, denn die Straßen sind wie leergefegt.

Als ich vorgestern kurz vor Sonnenuntergang – ich hatte den späten Nachmittag im Schwimmbad des Cham Palace verbracht – von der Innenstadt aus nach Hause fahren wollte, war es gar nicht so einfach, ein leeres Taxi zu finden. Und weil ich keines fand, nahm ich mit einem Minibus vorlieb. Doch erst der dritte oder vierte Minibus – mit der Aufschrift ‚Berzah Balad’ (das ist die Linie bzw. Richtung, in der ich wohne) hatte einen freien Platz. Eigentlich fahre ich ganz gern im Minibus, auch wenn mein Roller dabei etwas hinderlich ist – aber davon später.

Minibusse fahren bestimmte Routen, die weithin sichtbar auf einem über dem Dach angebrachten Schild angezeigt sind, allerdings nur in arabischer Sprache. Um einen Minibus anzuhalten, stellt man/frau sich an den Straßenrand und gibt dem Fahrer ein Zeichen. Wenn noch Platz ist, hält der Minibus – dazu bedarf es keiner besonderen Haltestelle. Ebenso sagt man dem Fahrer Bescheid, wenn man im Minibus sitzt und an irgendeiner Stelle aussteigen will. Wegen meiner zarten Stimme bevorzuge ich es, möglichst auf einer der vorderen Bänke zu sitzen. Ich verabscheue es, durch den Bus zu rufen, nicht zuletzt, weil dann auch dem letzten Insassen auffallen würde, daß ich keine Muttersprachlerin bin. Eine andere Taktik ist es, Ausschau zu halten, ob nicht ein anderer Fahrgast kurz vor meinem Ziel aussteigen will und sich kurzerhand ihm anzuschließen. – Bloß nicht auffallen...

Nach dem Einsteigen sollte man/frau nicht vergessen, das Geld nach vorne zum Fahrer durchzureichen. Die Fahrt in meinem Berzah Balad Minibus kostet – unabhängig davon, wie weit die tatsächliche Fahrtstrecke ist – 7 oder 8 syrische Lira (das sind etwas mehr als 10 Cent). Neulich saß ich in der hintersten Ecke auf der hintersten Bank – was man immer vermeiden sollte, nicht nur wegen der Problematik des dadurch notwendigen lauten Aussteigerufs, sondern auch wegen des mühseligen Aussteigewegs. Ich reichte ein 25 Lira-Stück an meinen Nachbarn, der es mit seinem in die vordere Reihe weiterreichte. Als das Wechselgeld zurückkam, steckte er es einfach in seinen Geldbeutel. In der Zwischenzeit stieg auch noch eine andere Frau ein, für die er ebenfalls das Geld entgegennahm und das Wechselgeld zurückgab. – Ich überlegte, wie ich reagieren sollte. Ich wollte nun wirklich kein großes Aufhebens wegen der 25 Cent machen, um die sich mein Nachbar bereichert hatte. Allerdings wollte ich auch nicht den Eindruck einer arglos naiven Touristin machen, weshalb ich mich dazu entschloß, ihn möglichst erwartungsvoll-kritisch von der Seite anzuschauen. Diese Taktik erwies sich dann als äußerst wirkungsvoll. Nach einigen Minuten des leicht vorwurfsvollen Anschielens zückte er seine Geldbörse und gab mir – zugegebenermaßen etwas widerwillig – das Restgeld zurück, das ich siegesbewußt einsteckte.

‚Normale’ (Groß- und nicht Mini)busse gibt es bzw. gab es bislang im öffentlichen Personennahverkehr in Damaskus nur wenige. Das hat sich vor ca. drei Monaten abrupt geändert. Mit einem Mal fahren nun moderne, grüne Stadtbusse, mit Nummern und Fahrzielen versehen, durch Damaskus’ Hauptstraßen. Unsere Sekretärin sagte, daß es sich – wie sie in der Zeitung gelesen habe – um ein Geschenk des Irans, produziert in China handele. – Ein wirklich nützliches Geschenk, das ich auch gleich ausprobiert habe, als ich eines Abends in der Innenstadt weilte und gerade kein Taxi fand (Abend – Innenstadt – und kein Taxi ist eine ähnlich ungünstige  Kombination wie September, Ramadhan und heiß – aber das hatten wir ja schon oben angesprochen). Aus empirischer Beobachtung wusste ich, daß die Linie 20 am Ibnul Nafiz Krankenhaus (wo unser Projekt residiert) vorbeifährt. Also stieg ich kurzentschlossen ein, als ich den Bus an der regulären Bushaltestelle – inzwischen sind etliche Bushaltestellen in Damaskus eingerichtet worden – vor dem russischen Kulturzentrum halten sah. Zu meiner Verwunderung waren die Insassen fast alle Männer, die meisten saßen allerdings nicht, sondern standen, denn der Bus war ziemlich voll. Ohne den eigentlichen Fahrpreis zu kennen, legte ich dem Fahrer ein 10 Lirastück hin – mehr als die Minibusfahrt konnte die Fahrt auf keinen Fall kosten – woraufhin ich 5 Lira Wechselgeld zurückbekam und einen Fahrschein, den ich den Instruktionen des Fahrers und wohlgesinnter Fahrgäste entsprechend in den Stempelautomat steckte. Und tatsächlich stempelte das Gerät meine Fahrkarte lautstark ab. Ein echtes Erlebnis, das es weder im Minibus noch in den deutlich komfortableren Überlandbussen gibt.

Leider hält die Linie 20 nicht unmittelbar in der Nähe meiner Wohnung, sondern ein paar Straßenzüge weiter südlich im eigentlichen Mazaken Berzah (meine Destination heißt übrigens Mazaken Berzah Mustbaq sanae – was auf dem zweisprachigen Schild mit ‚prefabricated buildings’ übersetzt wurde und in einfachem Deutsch ‚Plattenbausiedlung Berzah’ bedeutet). Dementsprechend schief angesehen werde ich manchmal, wenn ich anderen Ausländern oder wohlsituierten Damaszenern erzähle, wo ich wohne.

Der entscheidende Vorteil meiner Behausung ist erstens ihre Nähe zu meiner Arbeitsstätte und zweitens das – fast immer – wehende Lüftchen. Mazaken Berzah Mustbaq sanae liegt nämlich am Hang. Der Wind zieht vor allem abends an den Plattenbauten vorbei und raschelt dabei in den Palmen vor meinem Balkon – weshalb ich mich der Illusion eines abendlichen Palmenstrandes hingebe.

Vom Balkon meiner Plattenbauwohnung aus kann ich übrigens das ‚Zentrum für Strategische Gesundheitsstudien’ (das unser Projekt betreut)  auf dem Territorium des Ibnul Nafiz Krankenhaus sehen, ja sogar das Fenster meines Büros. Zu Fuß dorthin sind es etwa 25 Minuten, was damit zusammenhängt, daß es keine gerade Flugverbindung gibt. An faulen Tagen nehme ich ein Taxi, ansonsten steige ich auf den bereits erwähnten Roller. – Um Verwechslungen vorzubeugen, es handelt sich nicht um einen Motorroller, sondern einen Tretroller, den ich mir extra im vergangenen Jahr aus Deutschland mitgebracht habe. Es ist ein stabiles Gefährt, das sich umklappen läßt und dadurch auch im Taxi oder dem Minibus transportiert werden kann.

Rollerfahren ist ein eher ungewöhnliches Vergnügen in Damaskus, dem allenfalls Dreikäsehochs nachgehen. Meine kleinen Mitmenschen sind es vornehmlich, die mit großen, staunenden Augen stehenbleiben, wenn ich an ihnen vorüberrolle, den Finger in meine Richtung strecken und am Rockzipfel ihrer Mami zupfen, um sie auf mich aufmerksam zu machen.

Aber nicht nur. Gestern vormittag – es war Freitag, Ramadhan, noch nicht ganz so heiß, aber Roller fahrend durchaus schweißtreibend – rollte ich gerade die abschüssige Strecke vom Ibnul Nafiz Krankenhaus in Richtung Innenstadt (die beste Strecke übrigens, was das Rollvergnügen anbelangt). Vor mir verlangsamte ein vollbesetztes helles Auto. Als ich an ihm vorbeirollte, sah ich, daß die Fensterschreiben runtergekurbelt waren, und hörte die Insassen mir freundlich zurufen, wie toll das sei und daß man unbedingt ein Photo von mir machen wolle. Als ich ihnen dann noch auf Nachfrage erklärte, daß ich aus Deutschland sei, war die Freude im Auto übergroß. Deutschland genießt in Syrien ein hohes Ansehen, und mein Rollerfahren hat sicherlich zum Mythos deutschen Tatendrangs und deutscher Schaffenskraft beigetragen.

Ähnliche Reaktionen habe ich schon des öfteren beobachtet. Tatsächlich vergeht kaum ein Tag auf dem Roller, da ich nicht freudige Zurufe aus vorbeifahrenden Autos entgegennehme. Vor ein paar Tagen erfuhr ich dann von einer syrischen Kollegin, daß ich sogar in einem Zeitungsartikel erwähnt worden war. Der Artikelschreiber, der selbst wohl einige Jahre in den fahrradverliebten Niederlanden studiert hatte, bedauerte, daß diese Tradition noch nicht in Syrien Einzug gehalten habe. Allerdings - so berichtete er – habe er vor kurzem auf dem Ibnul Nafiz Gelände eine etwa fünfzigjährige Frau auf einem Roller vorbeifahren sehen, was ihn wieder Hoffnung schöpfen ließ. – Ich bat daraufhin meine syrische Kollegin doch bitte einen Leserbrief zu schreiben und MEIN WAHRES ALTER RICHTIGZUSTELLEN. – Nun ja. Ich finde, daß ich mich für meine 42 Jahre noch gut gehalten habe und dank der regelmäßigen Rollerfahrten sogar Idealgewicht erreicht habe.

Meine syrischen Kolleginnen sehen mit einem wohlwollenden Lächeln über meinen Spleen hinweg. Einmal, bei der Eröffnungsveranstaltung des Zentrum im letzten Jahr, hatte Dr. Raghed, die stellvertretende Leiterin des Zentrums, den Versuch unternommen, mir durch die Blume zu verstehen zu geben, daß Rollerfahren nicht adäquat für ein Mitglied des Lehrkörpers sei. Sie hatte zur Erläuterung, welches Verhalten für die Zentrumsmitarbeiter angemessen sei und was NICHT - ein paar Cliparts zusammengestellt, in denen unter anderem drahtige Figürchen auf Rollerskates zu ihrem Arbeitsplatz rollten. Meine syrischen Kolleginnen kamen nach der Veranstaltung auf mich zu, um mir mit vorgehaltener Hand ihre Solidarität zu bekunden. Ich lächelte nur, denn in den Clips war kein Roller abgebildet gewesen. Dr. Raghed – die als eher streng bekannt ist und die ich nicht minder schätze – ist übrigens nie direkt auf mich zugekommen, hat noch nicht einmal meinen Roller – jedenfalls nicht mir gegenüber - erwähnt, bis vor ein paar Tagen...

Es war kurz nach 15 Uhr – während des Ramadhan ist im Zentrum wenig los (na ja, um ehrlich zu sein auch während der übrigen 11 Monate ist um die Zeit kaum noch jemand im Gebäude), woraufhin ich beschloß, meinen Arbeitstag früher als im Nichtramadhan zu beschließen – als ich im Treppenhaus auf Dr. Raghed stieß, die sich ebenfalls auf den Nachhauseweg machte (allerdings steht ihr dazu ein - wenn auch etwas betagtes - Auto mit einem deutlich weniger betagten Fahrer zur Verfügung). Als sie mich den Roller schulternd die Treppen hinuntersteigen sah, fragte sie mich, warum ich den Roller nicht unten bei dem Hauswart an der Rezeption deponiere. Und ehe ich Zeit hatte, mir eine nette Ausrede auszudenken, hatte sie auch schon den Hauswart an der Eingangstür gebeten, in Zukunft meinen Roller in Verwahrung zu nehmen, damit ich ihn nicht drei Stockwerke durchs Zentrum tragen müsse (einen Aufzug gibt es übrigens nicht, aber einen entsprechenden Schacht). Dr. Raghed’s Anweisung ist mir wie immer ein Befehl. Darum lächelte ich brav und still in mich hinein. Immerhin war mein Roller somit – wenn auch nicht salonfähig – so doch rezeptionsfähig geworden.

Ramadhan Kareem – der Ramadhan ist großzügig! - lautet denn auch der Gruß im Ramadhan. Mit dem Spruch begrüßte ich übrigens vor ein paar Tagen Diana, die Projektsekretärin. ‚Wie sieht’s aus?’ wollte ich wissen und fügte hinzu ‚alles wirkt so ruhig im Zentrum während des Ramadhan.’ Es war an einem der Nachmittage, kaum jemand war noch auf der Arbeit, und auch ich war im Begriff, mich vom Acker zu machen. ‚Ich habe Hunger,’ sagte Diana. ‚Hunger – sagte ich – ist doch kein Problem. Durst ist viel schlimmer.’ – Doch Diana ließ nicht locker: Ich habe vor dem Sonnenaufgang viel getrunken, aber jetzt habe ich Hunger.’ Tatsächlich wirkte sie etwas matt. ‚Nichts einfacher als das’, meinte ich, ‚du mußt einfach die Augen schließen und dir vorstellen, wie ein leckeres Stück Kuchen im Mund zerschmilzt. - So mache ich es, wenn ich an etwas denke, was ich (als strenge Veganerin) nicht essen darf.’  Diana schloß die Augen, versuchte meinen Rat in die Tat umzusetzen und meinte dann aber enttäuscht: ‚Jetzt habe ich erst recht Appetit bekommen. Da muß ich wohl noch weiter üben.’

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© Text, Graphik und Photos: Anne Christine Hanser 2008
Autorin: Anne Christine Hanser, International Advisor, Damaskus, Syrien
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