Bernhard Peter
Was ist Hinduismus?
Oder besser: Was ist Hinduismus nicht?

Es ist zunächst viel einfacher zu erklären, was Hinduismus NICHT ist:

Der Hinduismus hat viele Gründergestalten zu ganz verschiedenen Zeiten. Der Hinduismus kann auf eine komplexe Geschichte von mindestens 3500 Jahren zurückblicken.

Der Hinduismus besitzt eine Vielzahl heiliger Schriften. Die Wurzeln des Glaubens sehen Hindus in göttlichen Offenbarungen verschiedenster Art.

Der Hinduismus hat viele Richtungen, Traditionen und Gemeinschaften, hat einen offenen Anfang und ein offenes Ende.

Hindu ist man in der Regel von Geburt an.

Der Hinduismus hat ein Netzwerk von Strukturen und Autoritäten, die den Platz des Individuums in der Religionsgemeinschaft bestimmen

Das universale Bewußtsein der Göttlichkeit steht nicht am Rande des Lebens, sondern bildet den Brennpunkt des Lebens eines jeden Individuums. Göttlichkeit wird als etwas Verehrungswürdiges wahrgenommen.

Was ist Hinduismus dann? Wer ist Hindu?
Hinduismus ist die gewachsene und verflochtene Struktur aus unterschiedlichsten religiösen Schriften und Lehren, die von Hindus für wichtig gehalten werden, aus verschiedensten Quellen stammen und wiederum unterschiedlichste Glaubensformen und Glaubensgemeinschaften ermöglichen, die nicht notwendigerweise einen gemeinsamen Nenner haben müssen, und ferner das Entstehen neuer Glaubensrichtungen ermöglicht.

Ein Hindu ist nach Hindu-Selbstverständnis, wer an „Sanatana Dharma“, an eine ewige göttliche Lebensordnung glaubt, an eine göttliche Ordnung des Universums, die auch das Diesseits durchdringt und immer wieder eine geeignete Entsprechung in der menschlichen Welt finden muß, wenn menschliches Handeln auf Dauer erfolgreich und segenbringend sein soll. Ferner ist Hindu, wer Verehrungswürdiges verehrt. Das sind aber Ansprüche, die jede ernstzunehmende Religion hat, also nichts Charakteristisches für das Hindu-Sein.

Das Hindu-Sein wird damit letztendlich definiert durch das Hindu-Sein-Wollen.

Was wird verehrt?
Verehrt wird das absolute göttliche Bewußtsein, der überpersönliche Urgrund des Universums (Brahman)

Konsequenterweise werden neben Göttern selbst Avatare als göttliche Verkörperungen, spirituelle Lehrer, Erlösungssuchende verschiedenster Art verehrt, und zwar in dem Maße, in dem sich in ihnen Eigenschaften manifestieren, die als Emanation des Göttlichen angesehen werden können, wie z. B. yogische Selbstbeherrschung, Weisheit, Gelehrtheit, materielle Entsagung, Askese, Ausstrahlung von Frieden, Kraft, Freude, paranormale Fähigkeiten u.v.a.m.

Ist Hinduismus Polytheismus?
Auch wenn der Hinduismus weit entfernt von unseren christlich-abendländischen Vorstellungen im monotheistischen Sinne entfernt ist und gerne dafür die Bezeichnung „Polytheismus“ gebraucht wird, existiert im Hinduismus die Vorstellung eines einheitlichen göttlichen Urgrundes schon seit den frühesten Zeiten. Wie die Rigveda sagt: "Es gibt nur eine Wahrheit - die Weisen benennen sie unterschiedlich". Es gibt zwar viele höhere und unzählige niedere Gottheiten und verehrungswürdige Wesen verschiedenster Arten, Zuständigkeiten und Ränge, aber sie alle gelten in der Regel als Hervorbringungen eines einheitlichen spirituellen Urprinzips. Auch die drei Hochgötter werden als eine einzige Trimurti zusammengefaßt. Die vielen Götter sind zudem durch hochkomplexe verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Damit wird der Begriff Polytheismus dem Hinduismus nicht ganz gerecht. Denn jede Verehrung ist zwar primär an einen Gott, an einen Avatara, an einen Yogi, an einen Einsiedler etc. gerichtet, doch mittelbar durch die im Einzelnen verehrten Eigenschaften an den Urgrund des Seins, an das Absolute, der von dem Gott, dem Avatara, dem Yogi, dem Einsiedler etc. reflektiert wird. So gesehen ist Hinduismus nicht so sehr die Religion der vielen Götter, sondern die Religion der Verehrung der vielen Manifestationen des Absoluten.

Viele Hindus sehen in der Vielzahl der Götter und Göttinnen lediglich unterschiedliche Gesichter des Einen Gottes – Brahman. Er ist das Eine und Alles, er enthält die ganze Welt und transzendiert sie. Alle Götter und alle Erscheinungen dieser Welt sind lediglich Ausdruck eines höchsten Prinzips, das unpersönlich ist und bleibt (Brahman). Diese Sichtweise wird aber längst nicht von allen Hindus geteilt.

Anhänger des Vedismus bekennen sich ganz klar zu Polytheismus, sie verehren eine Vielzahl von unterschiedlichen Göttern und Göttinnen um ihrer selbst.

Weiterhin gibt es im Hinduismus den Vishnuismus und den Shivaismus. Für ihre Anhänger verkörpern Shiva oder Vishnu jeweils den Einen Gott (die Strömung, die Brahma als den Einen Gott verehrt, ist heute fast nicht mehr anzutreffen). Beide Formen sind am ehesten mit „Henotheismus“ zu bezeichnen. Es gibt zwar viele Götter, verehrt wird jedoch jeweils nur einer davon als höchster Gott, wobei die anderen diesem untergeordnet werden. Dabei kann sich im Laufe der Zeit die Identität des obersten Gottes ändern, wie sich bei der Entwicklung vom vedischen Pantheon hin zum modernen Hinduismus deutlich gezeigt hat. Die Hochgötter aus vedischer Zeit wie Indra, Soma, Varuna oder Agni sind zu zu blossen Hilfsgöttern herabgesunken, während andere, zu vedischer Zeit unbedeutende Götter wie Shiva und Vishnu zu wichtigen Hochgöttern aufstiegen.

Den Hinduismus in eine feste Kategorie zu schieben, wird ihm nicht gerecht und ist auch nicht hilfreich für das Verständnis desselben. Wir müssen akzeptieren, daß sich hier wieder einmal der Hinduismus unserem Kategorisierungsbestreben widersetzt. Nach- und nebeneinander lassen sich unterschiedliche Formen feststellen, die von polytheistischem über henotheistisches bis hin zu monotheistischem Gedankengut reichen. Verschiedene, historisch nacheinander entstandene Glaubensrichtungen und Denksysteme existieren gleichberechtigt nebeneinander.

Lexikon der hinduistischen Mythologie:
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