Bernhard Peter
Warum haben Götter überhaupt eine Frau?
Über den Shaktismus

Götter können schöpfen, was immer sie wollen. Götter können sich als Gefährtin wählen, wen sie wollen. Und sie können schlafen, mit wem sie wollen. Und wenn mal ohne Gatte oder Gattin ein Mensch oder Gott geschaffen werden soll, tut es zur Not auch etwas Lehm und Gangeswasser. Und doch haben alle Hochgötter eine feste Gattin, manche sogar daneben noch eine zweite Frau. Nur der absolute Urgrund allen Seins, Brahman, ist geschlechtsneutral. Warum ist das nötig? Die Antwort ist der Shaktismus: Man glaubt daran, daß ein Gott als Idee erst durch den weiblichen Aspekt, seine Shakti, in die Lage versetzt wird, manifest und als Gott aktiv zu werden. Das männliche Prinzip eines Gottes ist passiv und statisch, das weibliche Prinzip ist aktiv und dynamisch. Nur im Zusammenspiel beider Eigenschaften, im Zusammenwirken von männlichem und weiblichem Prinzip kann etwas funktionieren. Shiva vermag z. B. nichts ohne seine Parvati an seiner Seite. Diese Ansicht wird Shaktismus genannt. Ein Gott – wie z. B. Shiva - ist erst einmal für sich nur reiner Geist. Der Gott wird erst manifest, nachdem er durch die Berührung mit der dynamischen weiblichen Lebenskraft (Shakti) aufgeladen wird. Ohne Wirken der Göttin können die Götter nicht ins Sein treten und bleiben leblos. Shakti ist also die schöpferische Potenz eines Gottes, die Quelle dynamischer Kraft, symbolisiert in Gestalt seiner Gattin.

Oder formulieren wir das noch abstrakter: Wir nennen Gott eine unergründliche Energie, die immateriell ist und Großes hervorzubringen in der Lage ist. Wenn sich diese Energie manifestiert, sprechen wir von Schöpfung. Die Idee, die in der göttlichen Energie enthalten ist, wird dabei sichtbar, existent, materiell. Schöpfung beschreibt also den Übergang vom Geistzustand in den Materiezustand. Die Idee ist statisch immer vorhanden. Die Schöpfung dagegen ist ein dynamischer Prozeß. Die göttliche Energie gibt es also in statischer Form (männliches Prinzip) und in dynamischer Form (weibliches Prinzip, Shakti). Erst wenn die göttliche Energie in die dynamische Form übergeht, kann Schöpfung stattfinden. Ein Gott verkörpert das kosmische Bewußtsein in unbeweglichem Zustand, seine Shakti repräsentiert das kosmische Bewußtsein (Brahman) in dynamischem Zustand. Ein Gott existiert als Bewußtseinskraft des Universums, als Möglichkeit und Idee der Schöpfung. Shakti manifestiert sich als Energie, Denkfähigkeit, Leben und Materie, als Zustandekommen der Schöpfungsidee. Das Wechselverhältnis von Männlichem und Weiblichem gilt als notwendiges Element im Schöpfungsprozeß.

Im hinduistischen Pantheon haben wir viele Beispiele von Göttern und zugehöriger Shakti. Dabei repräsentiert die jeweilige Shakti Eigenschaften, die die des männlichen Gottes ergänzen. Das männlich-göttliche Prinzip ist der Geist, die Idee, das weiblich-göttliche Prinzip ist die Materie, die Umsetzung der Idee in die Tat: Shakti ist die Kraft, mit der Brahma erschafft, mit der Vishnu erhält, mit der Ganesha für Erfolg sorgt und mit der Shiva vernichtet. Unverheiratete Gottheiten bzw. Götter ohne Partnerin gelten aus dieser Sicht als unvollständig.

Gott und seine Shakti entsprechen ein und derselben Realität, aber aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.

Lexikon der hinduistischen Mythologie:
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