Bernhard Peter
Erscheinungsformen und Aspekte Shivas

Shiva besitzt 28 verschiedene Erscheinungsformen. Sie werden nicht wie bei Vishnu als Avatara bezeichnet. Sie folgen auch nicht zeitlich aufeinander. Wichtige Erscheinungsformen sind:

Nataraja: Shiva, der König des Tanzes.
Tanzender Shiva. Shiva steht in der Tanzkunst über allen Göttern, er ist Meister aller 108 Tanzformen. Shiva tanzt jeden Abend, um die Leiden von Geschöpfen zu lindern und um die Götter zu unterhalten, die sich am Kailash-Berg einfinden. Shiva wird mit vier Händen und zwei Beinen in Tanzposition stehend dargestellt, von einem Flammenring umgeben, eine Sanduhr-Trommel (Damaru, repräsentiert den Rhythmus sowie Ton des Tanzes sowie der Schöpfung) in der oberen rechten Hand und Feuer (Pralayagni, versinnbildlicht das Feuer, das am Ende der Zeit die Welt zerstört, Shiva als Weltzerstörer) in seiner linken oberen Hand haltend. Die untere rechte Hand befindet sich in der Stellung des "Abhaya-Mudra" (Schutzgewährungs-Geste, Zeichen von Furchtlosigkeit). Die linke untere Hand weist auf den erhobenen linken Fuß. Fliegende Haarflechten deuten wilde Tanzbewegungen an. In seinen Haaren sind eine Mondsichel und die Göttin Ganga dargestellt. Gemäß der Legende versuchten einige irrgläubige Rishis Shiva durch magische Gesänge zu vernichten. Shiva erkannte die drohende Gefahr und fing an zu tanzen, wodurch die negativen Kräfte der Rishis neutralisiert wurden. Die Rishis wurden sauer und schufen den ignoranten Zwerg Aspama (auch Apasmara Purusha), der sich auf Shiva stürzte. Der böse Zwerg geriet aber bei seinem ersten Angriffsversuch unter einen Fuß des tanzenden Shivas, wodurch ihm das Rückgrat zerbrochen wurde. Die Vernichtung des Zwerges Aspama steht für die Befreiung der Welt von Ignoranz und Unwissenheit. Der böse Dämon, auf dem Shivas rechter Fuß steht, symbolisiert die Unwissenheit, die uns unser Gleichgewicht und Bewußtheit verlieren läßt. Der Shiva auf den meisten Darstellungen als Nataraja umgebende Feuerbogen symbolisiert die Ursilbe der Schöpfung Om bzw. Aum. Shivas dynamischer Freudentanz (Anandatandava) symbolisiert einen unaufhörlichen Prozeß von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung. Eine Erscheinungsform des Aspektes Nrttamurti.

Gajasura Samharamurti: Vernichter des Elefantendämons.
Um Shivas Lingamsymbol versammelte Brahmanen wurden einst in ihrer Andacht durch einen ausgeflippten Elefanten gestört. Der Lingam spaltete sich, heraus trat Shiva und tötete den Elefantendämon. Der siegreiche Shiva steht auf dem toten Elefantendämon. In seinen acht Händen hält er die abgezogene Haut des Dämons, Dreizack, Sanduhr-Trommel, Gada (Keule), Ankusa (Stachelstock zum Elefantentreiben), Danta (Stoßzahn eines Elefanten), Kapala (Bettelschale). Dabei können die Attribute je nach Darstellung variieren. Eine der vielen Erscheinungsformen Shivas als Zerstörer (Samharamurti).

Dakshinamurti: Shiva, der Weltenlehrer.
Shiva verkörpert Selbsterkenntnis (Jnana). Als Gott aller Studierenden, Gelehrten und Sucher der Weisheit und Erkenntnis ist er das Modell eines perfekten Gurus.

Ardhanarishvara: Shiva mit halb männlicher und halb weiblicher Gestalt.
Die linke Seite ist die weibliche und verkörpert seine Gattin Parvati, die rechte wie gewohnt Shiva. Diese Erscheinungsform betont die Wahrnehmung als Welt als eine Struktur von bipolarer Natur. Alles existiert als Gegensatzpaar, charakterisiert durch zwei gegensätzliche Eigenschaften oder Naturen. Das Gegensatzprinzip findet hier seine Darstellung durch männlichen (Purusha) und weiblichen (Prakriti) Aspekt - Shiva und seine Shakti Parvati. Auch ist diese Darstellung allgemein Ausdruck des Shakti-Prinzips, der Vereinigung von Shiva-Shakti.

Panchanana: Der mit den fünf Gesichtern.
Diese Darstellung vereinigt gleich fünf Eigenschaften Shivas in einer: Isana (Herrscher), Tatpurusa (höchster der Menschen), Aghora (ohne Furcht oder Furcht einflößend), Vamadeva (Gottheit der linken Hand) und Sadyojata (der plötzlich Geborene).

Mahayogin: Der große Asket.
Shiva ist der Herr des Yoga und der Yogis, oft dargestellt in tiefer Meditation – versunken in der Freude der Glückseligkeit. Halknackt, den Körper mit weißer Asche beschmiert, hockt er in den Höhlen des Himalaya, in Askese (Tapasvita) lebend, in Meditation versunken. Die Hände halten einen Rosenkranz (Aksamala) oder sind in der Dhyana-Mudra (Meditationsgeste) übereinander gelegt. Als Mahayogin ist Shiva ein statischer Gott.

Sarvabhutahara: Der Wegraffer aller Wesen.
Shiva ist der Herr der Zeit. Er ist Meister der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Ende, das Shiva durch die Vernichtung der Welt herbeiführen wird, ist das Ende der Wiedergeburten, das Ende der Bindung der Wesen an das Prinzip des Samsara.

Aghora Rudra: schreckliche und grimmigste Gestalt Shivas.
Diese Erscheinungsform spiegelt das Hervorgehen Shivas aus dem alten vedischen Gott Rudra wieder. In den Veden ist Rudra ein Gott, der Angst und Schrecken verbreiten kann, der Naturkatastrophen und Krankheiten senden kann. Er ist ein guter Bogenschütze, doch seine Pfeile bringen dem Getroffenen Krankheit und Tod. Gleichzeitig ist Rudra der Gott der Heilmittel, so daß auch hier schon sein doppeltes Wesen vorgezeichnet wird. Rudra kennzeichnet nach wie vor den wütenden, zerstörerischen Aspekt Shivas. Als Aghora Rudra ist Shiva der Endzeitbringer und Weltzerstörer. Rudraksha-Perlen (Tränen Rudras oder Tränen Shivas) werden von Shiva-Anhängern und Yogis als Aksamalas (Malas oder Rosenkränze) um den Hals oder ums Handgelenk getragen.

Lexikon der hinduistischen Mythologie:
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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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